17.51 Uhr: Stillstand

Orkan „Kyrill“ hat am Donnerstag auch große Teile des Bahnverkehrs lahmgelegt. Tausende steckten auf offener Strecke oder in Bahnhöfen fest. Eine Nacht zwischen Babygeschrei und Gratis-Popcorn

Donnerstag, 15.52 Uhr, Leipzig Hauptbahnhof: Der ICE 1508 aus München steckt im Unwetter fest. Flugs stellt die Bahn einen Ersatz-ICE bereit, als wäre sie ein kundenorientiertes Dienstleistungsunternehmen. 16.05 Uhr, Delitzsch: Stromabnehmer beschädigt. Umstieg in eine Regionalbahn nach Bitterfeld; dort, 17.25 Uhr, in einen IC nach Berlin. Planmäßige Ankunft: 19.20 Uhr. Eine Mutter füttert ihren Säugling. Es ist das letzte Gläschen. Wir sind ja gleich da.

17.50 Uhr: Bremsen. 17.51 Uhr: Stillstand. Der IC in einer Senke, eingekeilt zwischen schlammigen Bahndämmen. Medewitz. Nie gehört. Der Zugchef: „Meine Damen und Herren, bitte beachten Sie folgende Durchsage: Der vor uns liegende Streckenabschnitt ist nur eingleisig befahrbar.“ 18.20 Uhr, der Zugchef: „Der Blitz hat die Oberleitung zerstört.“ 19 Uhr, Brotzeit. Der Zugchef: „Im Faltblatt ‚Ihr Fahrplan‘ hat sich ein Druckfehler eingeschlichen. Dieser Zug führt donnerstags keinen Speisewagen.“ Die Mutter weint. Der Zugchef: „Bitte beachten Sie folgende Durchsage: Hat jemand Babynahrung dabei?“

Die Notstromaggregate geben auf. Toilettenbeleuchtung und -spülung sind betroffen. Der Zugchef, 20.40 Uhr: „In 50 Minuten erreicht uns eine Diesellok aus Berlin-Lichtenberg, die unseren Zug nach Berlin ziehen wird.“ 23 Uhr, der Zugchef: „Die Diesellok ist in umgekippte Bäume gefahren und kann uns deshalb auf unbestimmte Zeit nicht erreichen.“

Ein Fahrgast in einem beneidenswert warmen Wollmantel: „Also ich manage ja auch Krisen, Wirtschaftskrisen.“ Ein Student: „Mama, mein Akku ist gleich leer. Ruf die Feuerwehr, bitte.“ Der Wirtschaftskrisenmanager: „Es wird immer die kostengünstigste Lösung gewählt.“

Freitag, 1 Uhr, der Zugchef: „Ich muss den Dienstweg einhalten. Ich kann nicht eigenmächtig die Feuerwehr anrufen. Das macht die Zentrale.“ Der Wirtschaftskrisenmanager: „Wir warten hier, bis es hell wird.“

2 Uhr, der Zugchef: „Mitarbeiter des Technischen Hilfswerks sind auf dem Weg zu uns.“ Eine Frau, schrill: „Beim Tsunami waren sie schneller!“

3 Uhr: Scheinwerfer. Die Freiwillige Feuerwehr. Eine Kiste Fanta. 160 Fahrgäste. Ein Feuerwehrmann: „Wir haben erst um 0.30 Uhr von Ihnen erfahren.“ In Bussen in eine Turnhalle. Straßen wie im westafrikanischen Dschungel. Dann, 5 Uhr: brandenburgisches Neonlicht. Kartoffelsuppe, Tee.Durchlebt von: HEIKE HAARHOFF

Donnerstag, 18.05 Uhr, Bahnhof Bückeburg: Der Regionalexpress nach Hannover steht, Endstation. Fährt noch was? Ein buntes Völkchen im Mini-Bahnhof hat auch keine Ahnung. Die überforderte Bahnangestellte im Reisezentrum macht Feierabend. Keine Auskunft auch bei der Info-Hotline der Bahn – „Bitte rufen Sie zu einem späteren Zeitpunkt an.“

20.30 Uhr. Klar ist: Ich komme hier nicht mehr weg. Im „Hotel am Schlosstor“ bekomme ich noch ein Zimmer. Es ist anscheinend das letzte in der ganzen Gegend.

Freitag, 10.45 Uhr, Hauptbahnhof Hannover: Die S-Bahn war pünktlich, nun herrscht Chaos. Auf Gleis 9 steht der Ersatzzug nach Berlin, ein Eurocity. Über Lautsprecher die Ansage: „Dies ist für Stunden der letzte Zug nach Berlin.“ Geschäftsleute und wacklige Omis rennen. Selbst in der 1. Klasse Gedränge im Gang.

10.55 Uhr: Abfahrt. „Sonderzug nach Pankow“-Gewitzel. Eine junge Frau intoniert: „Berlin, Berlin, wir fahren nach Berlin!“ Eine alte Frau zu ihrem Mann: „Dass wir in der 1. Klasse stehen, ist heute egal, Ernst.“ Der Schaffner zwängt sich durch, er kontrolliert nichts mehr. Auch ein Kaffeeverkäufer schlängelt sich vorbei. Beim zweiten Mal verschenkt er Kekse. „Wir wünschen Ihnen eine angenehme Reise“, flötet eine Frauenstimme aus den Lautsprechern.

13.40 Uhr, Ankunft in Berlin-Spandau – weiter fährt kein Zug mehr. Das ICE-Gleis ist überfüllt mit Reisenden. Drei junge Männer haben sich auf ihre Koffer gesetzt. Sie spielen Skat.

Notiert von: PHILIPP GESSLER

Donnerstag, 19.30 Uhr, ICE 596 nach Berlin: In Göttingen ist alles vorbei. Weiterfahrt „auf unbestimmte Zeit verzögert, wegen des Wetters in ganz Deutschland“. Zum Glück steht der Zug im Bahnhof. Strom, Licht, Heizung – alles da. Doch im Speisewagen wird das Weizen knapp. Selbstversorgung greift um sich. Solidargemeinschaft rund um Bier und letzte Brote.

20.00 Uhr: „Der Bahnverkehr in ganz Deutschland ruht, wegen des Wetters in ganz Deutschland“. 21.00 Uhr: Die Bahnhofskioske sind leergekauft, schließen einer nach dem anderen. Leise Panik. Das Technische Hilfswerk (THW) lockt mit Eintopf-Versprechen in Miefturnhallen. Einige fahren mit, die meisten bleiben.

22.00 Uhr: Irgendwer – der Oberbürgermeister persönlich? – sorgt für eine Nachtvorstellung im Cinemaxx-Kino hinter dem Bahnhof. 23.00 Uhr: Beim THW gibt’s Erbsensuppe, bei der grandiosen Kino-Crew Kaffee und Popcorn für lau.

Ab 1.00 Uhr: Die ultimative lange Filmnacht. In Saal 1–7 laufen die Filme in Endlosschleife, im Saal 9 wird gepennt – ohne Bild und Ton. Die grandiose Kino-Crew macht immer neues Popcorn. „Babel“ ist mir zu durcheinander, „Departed“ zu lahm. Schlafe selig durch anderthalb Vorstellungen von Dani Levys Hitler-Film.

2.45 Uhr: „Liebe braucht keine Ferien“, bisschen kitschig, passt aber zum Popcorn. 4.30 Uhr: „The Prestige“ schockt mit brutalem Kanarienvogelableben. 6.00 Uhr: Verpasse das Ende, muss zum Zug. 7.00 Uhr: Stehen immer noch rum. Die ersten Berlin-Reisenden des neuen Tages kommen, frisch gewaschen und gekämmt. Alles Memmen. Fazit: Göttingen kann sehr schön sein.Genossen von: STEFFEN GRIMBERG