„Wir sind der Überschuss“

Beirut ist voller Bilder. Nach jedem Angriff laufen die Fotohandys heiß, gerichtet auf die Zerstörung. Doch das Hinsehen macht langsam blind. Wie wichtig es ist, auch Abstand nehmen zu können, erzählt der Performer Rabih Mroué, der das Projekt „2732 km from Beirut“ für das Berliner HAU kuratiert hat

INTERVIEW CHRISTIANE KÜHL

taz: Rabih Mroué, das Programm, das Sie in Berlin präsentieren, heißt „2732 km from Beirut“. Wie weit ist das?

Rabih Mroué: Es macht natürlich keinen Sinn mehr, Entfernung in Kilometern zu messen, seit wir durch elektronische Medien immer hier und da zugleich sein können. Dabei sind Entfernungen essenziell: Sie geben Zeit zum Atmen. Wir brauchen sie. Nicht zwischen Deutschen und Libanesen, sondern zwischen uns und allen Dingen. Ich habe das Programm bewusst nicht „2732 km from Berlin“ genannt, weil es nicht darum geht zu sagen, Beirut ist ganz anders als Berlin und wir zeigen euch, wie. Im Gegenteil, es ist auch für uns wichtig, weg zu sein von all dem Druck der politischen und sozialen Verhältnisse, um die Stadt sehen zu können.

Tony Chakar schreibt im Programmheft, die einzige Konstante des Lebens in Beirut sei die „zunehmende physische Einsamkeit“, weil alle emigrierten oder ihre Emigration vorbereiteten. Wie würden Sie die Stimmung beschreiben?

Seit dem letzten Krieg, also Juli 2006, hat sich alles radikalisiert. Die Situation ist kaum mehr auszuhalten. Es ist, als hätten wir bislang in einem Traum gelebt: dem Traum, dass der Bürgerkrieg endlich vorbei sei, wir die Nation neu aufbauen könnten, man tatsächlich über Zukunft nachdenken kann. Jetzt sind wir aufgewacht. Und müssen erkennen, dass der Krieg nie vorbei war, sondern wir ihn nur nicht mehr sehen wollten. Es gab nie eine Auseinandersetzung mit dem Bürgerkrieg 1975–1990. Jetzt droht ein neuer. So viele Kriege sind für ein Leben zu viel. Ich überlege selbst erstmals, den Libanon zu verlassen.

Ist es uns Westeuropäern überhaupt möglich, sich die Realität in Beirut und im Libanon vorzustellen?

Natürlich ist es schwierig für Sie. Es ist ja auch für uns schwer. Das spiegelt sich in „2732 km from Beirut“. Die präsentierten Werke sind so kompliziert und komplex wie die Situation im Libanon. Sie zeigen ein komplett anderes Bild als die Medien, die alles simplifizieren. Wenn das Programm erfolgreich ist, wissen Sie am Ende aber nicht mehr über Beirut, sondern Sie stellen sich Fragen über Berlin. Darum geht es: dass wir uns als gleichwertige Individuen begegnen und realisieren, dass wir die gleichen Probleme haben. Auch wenn Ihre versteckt sind. Es geht nicht um „Verstehen“. Es geht viel mehr darum, was Jalal Toufic „Nichtverstehen auf intelligente Weise“ nennt. Für die Kunst gilt das genauso. Auch wenn ein Künstler sehr viel über die politische Situation weiß, muss er im Moment der Produktion nichtverstehen. Sonst ist das Werk wie eine Frage, auf die man schon Antwort hat.

Ich hatte erwartet, Sie würden meine Frage gar nicht durchgehen lassen, weil sie Vorstellung versus Realität setzt – und genau die Durchdringung von Fiktion und Fakten ja eines der dominantesten Motive in der libanesischen Kunst ist. Auch Sie arbeiten mit erfundenen Statistiken und sogenannten „persönlichen Archiven“, die die Geschichte Ihres Landes anders kartografiert, als es offizielle Quellen tun.

Stimmt. Dabei geht es natürlich nie darum, das Publikum zu belügen; vielmehr soll vermittelt werden, dass es völlig sinnlos ist, Erfindung und Wahrheit strikt zu trennen. Ich will zeigen, dass Geschichte immer aus Geschichten konstruiert wird. Die Geschichte gibt es nicht. Das Besondere an der Situation im Libanon ist aber, dass, während man sich anderswo längst auf eine offizielle Geschichtsversion geeinigt hat, bei uns noch immer darum gekämpft wird. Hier werden Fiktionen zu Fakten, weil sie den Krieg legitimieren. Es ist wichtig, das in unserer Region zu erzählen, weil dort alle gegen alle kämpfen in dem Glauben, die Wahrheit zu besitzen.

Auffällig ist auch der fast obsessive Umgang mit Fotos; selbstaufgenommen oder aus Zeitungen, dokumentarisch oder manipuliert, häufig von Text begleitet.

Die Hauswände Beiruts sind voller Bilder – Fotos von Vermissten, die man so nicht sterben lässt. Dazu kommt die Bildermaschine Fernsehen, auf die wir glotzen wie die Blinden, weil bei der hyperschnellen Abfolge von Grausamkeiten jedes Bild das vorherige auslöscht. Gleichzeitig ist es schwer, der Verführung der Technologie zu widerstehen. Sie ahnen nicht, wie viele Menschen nach den Angriffen mit Fotohandys durch die Zerstörung laufen und alles knipsen.

Ich selbst bin immer vor den Bildern der Zerstörung weggelaufen. Ich traue den Worten mehr als Bildern; Bilder sind leer. Einmal wollte ich eine Performance über den vom Krieg tätowierten Körper machen. Aber alles, was ich auf der Bühne zeigen konnte, war weniger als das, was ich im Krieg erlebt habe. So habe ich begonnen, den Körper von der Bühne verschwinden zu lassen. Es hat keinen Sinn, etwas zu verkörpern, damit man es sehen kann. Bei meinen Lecture-Performances zeichne ich mit Worten.

Nach Berlin haben Sie 20 Künstler eingeladen, die meisten wie Sie in den Sechzigern geboren. Wie würden Sie diese Generation beschreiben?

Als ich anfing, das Theater zu hinterfragen, kam ich mir immer wie ein Verräter vor. Deswegen habe ich begonnen, die Theaterfamilie zu meiden. Ich bewegte mich unter Architekten, Schriftstellern und Künstlern, denen es ähnlich ging. Wir hatten keinen Anschluss mehr an die Traditionen. Wir sind bis heute nicht Mainstream. Wir sind der Überschuss.