„Wir sind alle Armenier“

Die Trauer um Hrant Dink hat die gesamte türkische Gesellschaft erfasst. Rätselraten um die Hintermänner der Tat

Immobilienmakler, Geschäftsleute, Studenten, Lehrer – sie sind alle entsetzt und sprachlosDie türkische Gesellschaft trauert zum ersten Mal einem armenischenMitbürger nach

AUS ISTANBULDILEK ZAPTCIOGLU

Der mutmaßliche Mörder des armenischen Publizisten Hrant Dink wurde am Wochenende in der Stadt Samsun am Schwarzen Meer gefasst. Die Jagd auf den Attentäter, der den wichtigsten Vertreter der armenischen Gemeinde in der Türkei ermordete, glich einem Kriminalfilm. Die Istanbuler Polizei veröffentlichte am Sonntagmittag Fotos von dem mutmaßlichen Attentäter: weiße Wollmütze, Jeansanzug, schwarze Lederschuhe. Der Vater erkannte seinen Sohn: Es war Ogün S., ein knapp 17-jähriger Jugendlicher aus der Stadt Trabzon am östlichen Ende des türkischen Schwarzmeergebiets, nahe an der Grenze zu Georgien.

Nachdem er am Freitag Hrant Dink vor dessen Zeitungsredaktion in Istanbul ermordet hatte, saß der Täter am Sonntagabend in einem Bus in Richtung Norden. Ob er einfach nach Hause gehen oder von dem Schwarzmeerhafen Hopa nach Russland übersetzen wollte, ist nicht klar. Fest steht, dass er in seiner ersten Vernehmung gestanden hat: „Ich habe mein Freitagsgebet verrichtet und danach den Armenier erschossen, weil er das Türkentum angriff.“

Mit der Festnahme von Ogün S. beginnt das Rätselraten erst. Denn niemand in der Türkei kann so recht daran glauben, dass ein jugendlicher Schulabbrecher aus der Provinz, ein notorisch mittelloser Herumtreiber im Clinch mit seiner ärmlichen Familie, dieses politisch hochbrisante Attentat alleine geplant und durchgeführt hat. So ermitteln nun die Bereiche „Organisierte Kriminalität“ und „Terrorstraftaten“.

Sein Onkel Faik Samast, der im selben Haus mit dem Jungen wohnt, sagt: „Ogün hat sich in letzter Zeit verändert, er trieb sich in Internetcafés herum, traf Unbekannte, war jähzornig und unansprechbar.“ Er hat eine kleine Vorstrafe wegen Diebstahls und soll einmal mit einer Schrotflinte auf seinen Vater losgegangen sein.

Das Bild, das von ihm entsteht, prädestiniert den desorientierten Jugendlichen, der seine Zeit mit Gewaltspielen und Chatten im Internet verbrachte, zum Missbrauch als Auftragskiller. Eine Mitgliedschaft in den rechtsradikalen „Nizam-i Alem“ wurde dementiert. Die Aussage seiner Eltern, dass er zuletzt „Unmengen von Geld“ bei sich hatte und nichts über dessen Herkunft sagen wollte, rundet das Bild des durch Hintermänner genau geplanten und durchgeführten politischen Attentats ab. Ogün S. kommt vor ein Jugendgericht und wird wohl nicht länger als zehn Jahre im Gefängnis verbringen.

Sein Freund Yasin Hayal, der vor drei Jahren in Trabzon eine Bombe in die Filiale einer amerikanischer Hamburgerkette gelegt hatte, ist nach nur zehn Monaten herausgekommen. In dieser Stadt wurde im letzten Jahr der italienische Priester Andrea Santoro ermordet – von einem unzurechnungsfähigen Jugendlichen. Die Schwarzmeerstadt ist nicht nur eine Hochburg des türkischen Rechtsradikalismus, sondern auch eine der Städte mit den höchsten Arbeitslosenraten. Waffenkult und Machismo gehören zu den Merkmalen dieser Region. „Trabzon ist offensichtlich eine gute Rekrutierungsstelle für rechtsradikale Auftragskiller in minderjährigem Alter“, schrieb Fatih Altayli, Leitartikler der Sabah gestern, und forderte die örtliche Polizei auf, „gegen die Banden von rechten Lumpenproleten vorzugehen“.

Die Frage, wer den Armenier Hrant Dink ermordete, ist damit nicht beantwortet. Es grassieren verschiedene Verschwörungstheorien: Das Attentat hätte der Türkei geschadet, schreiben nationalistische Kolumnisten wie Emin Cölasan im Massenblatt Hürriyet, und deshalb sei es eher das Werk ausländischer Geheimdienste. Manche machen keinen Hehl daraus, dass sie dem unliebsamen Armenier nicht nachweinen. Eine Verbindung zu den Plänen der Türkei, im Nordirak einzumarschieren, wird hergestellt. Nach diesem Attentat sei es für die Türkei unmöglich geworden, ihre Thesen gegen den „Völkermord an den Armeniern 1915“ noch aufrechtzuerhalten – denn die ganze Welt wird sagen, schreibt die Sabah, „dass wer 2007 in Istanbul einen Armenier tötet, auch 1915 seine Armenier vernichtet hat“.

Das Attentat schaltet nicht nur einen offensiv agierenden und deshalb unersetzbaren Armenier in Istanbul aus und schüchtert seine Gemeinde ein. Es ist zugleich ein Schuss ins Herz der türkischen Gesellschaft: „So hässlich seid ihr mit eurem Rassismus und eurer nationalistischen Borniertheit“, scheint es allen ins Gesicht zu schreien.

Der Tatort ist überhäuft mit Blumen. Ganz gewöhnliche türkische Hausfrauen rufen bei den Fernsehsendern an und sagen weinend, dass „dieser gute Mann den Tod nicht verdient“ hätte. Immobilienmakler, Geschäftsleute, Studenten, Lehrer – sie sind alle entsetzt und sprachlos: „Auf die paar Armenier, die noch bei uns geblieben sind, hätten wir wie auf unseren Augapfel aufpassen sollen“, schreiben Passanten in das Kondolenzbuch, das am Tatort aufgestellt wurde. „Ich schäme mich“, hat jemand nur hingekritzelt. Das armenisch-türkische Volkslied „Sari Gelin“ (Die blonde Braut), untermalt Bilder aus dem Leben des Ermordeten, die seit Tagen über den Bildschirm von Millionen türkischer Haushalte flimmern. Der Mord beschämt. Die türkische Gesellschaft trauert erstmals einem armenischen Mitbürger nach. Linksintellektuelle, Schriftsteller und Künstler, die seit Jahren eine offene Debatte darüber fordern, „was mit den Armeniern vor 90 Jahren in Anatolien geschah“, fühlen sich jetzt betroffen und gestärkt zugleich. „Unser Kampf für Demokratie und gegen Rassismus geht nun erst recht weiter“, rufen zivilgesellschaftliche Organisationen wie die „Friedensinitiative“ (Baris Girisimi).

Die Bestattungsfeier für Hrant Dink, sagt die Schriftstellerin Oya Baydar, „muss zu einer Massenkundgebung für Hrant, für unsere armenischen Freunde und gegen Faschismus werden“. Dink wird morgen Nachmittag nach einer Messe in der Patriarchatskirche auf dem armenischen Balikli-Friedhof in Istanbul beigesetzt. Außenminister Abdullah Gül wird auch erwartet. Der Gewerkschaftsverband Disk, alle türkischen Berufskammern und hunderte von NGOs rufen zu einem großen Marsch in Istanbul auf, der vor der Zeitung Agos beginnen wird, deren Herausgeber und Chefredakteur Dink war. Die einzig zugelassene Parole ist: „Wir sind alle Armenier“. Damit die armenische Wochenzeitung weiterlebt, wurde eine große Abo-Kampagne gestartet. Was die Türkei jedoch am stärksten braucht, ist jetzt eine vollständige Aufklärung dieses politischen Attentats, damit ihm nicht bald andere folgen.