BEWUSSTSEINSWANDEL REICHT NICHT – GESETZE MÜSSEN GEÄNDERT WERDEN
: Das Gesicht der liberalen Türkei

Ein eindrucksvoller Trauermarsch hat gestern den Sarg des türkisch-armenischen Journalisten Hrant Dink durch Istanbul begleitet. Mit der stillen Demonstration, an der Intellektuelle, Politiker und Kirchenvertreter teilnahmen, hat die liberale Türkei ihr Gesicht gezeigt. Es war ein Zeichen der Solidarität mit der armenischen Minderheit – und für die Meinungsfreiheit in der Türkei.

„Wir sind alle Hrant Dink“ und „Wir sind alle Armenier“, so lauteten die Slogans auf Transparenten und Plakaten. So hatten auch die großen türkischen Zeitungen nach dem Mord getitelt, und Ministerpräsident Erdogan stimmte in den Tenor ein, als er den Mord als „Anschlag auf die Demokratie“ bezeichnete: Ein erfreulicher Kontrast etwa zum russischen Präsidenten Putin, der die kritische Journalistin Anna Politkowskaja nach ihrer Ermordung als „unbedeutend“ geschmäht hatte.

Ein wenig merkwürdig mutet diese nachträgliche Eingemeindung des Publizisten zwar an, wurde er doch aufgrund seiner Haltung zum Völkermord an den Armeniern in der Türkei häufig angefeindet. Noch im vergangenen Jahr war er sogar wegen „Beleidigung des Türkentums“ von einem türkischen Gericht zu einer Bewährungsstrafe verurteilt worden. Doch die Anteilnahme ist ein Zeichen für einen demokratischen Grundkonsens.

Von einem Bewusstseinswandel zeugt auch, dass die Polizei schnell den mutmaßlichen Täter und weitere Verdächtige verhaftet hat und nun weiter nach Hintermännern sucht. So viel Aufklärungswillen war nicht immer da. In frischer Erinnerung sind noch die finsteren Neunzigerjahre, als im Zuge des Bürgerkriegs zahlreiche Journalisten niemals aufgeklärten Morden zum Opfer fielen.

Aus Pietät werden in der Türkei nun alle politischen Differenzen, denen Hrant Dink schließlich zum Opfer fiel, für einen Moment ausgeblendet. Doch es ist nötig, an sie zu erinnern. Der berüchtigte Paragraf 301, der Anklagen wegen „Beleidigung des Türkentums“ ermöglicht, gehört abgeschafft, das historische Verbrechen an den Armeniern aufgeklärt – und der Umgang mit den Minderheiten verbessert. DANIEL BAX