Versöhnung im Trauerzug

Am Grab vom Hrant Dink stehen Armenier und Türken Hand in Hand. Sie wollen das Erbe ihres Idols und großen Kämpfers weitertragen

aus IstanbulDILEK ZAPTCIOGLU

Das Gesicht der zierlichen, schlanken Frau ist um Jahre gealtert. Ihre Wangen glühen, ihre Augen sind nur noch zwei tiefe Gruben, und ihre Stimme bebt vor Trauer. „Ach Sevgilim, ach mein Geliebter!“, schreit sie hilflos in das Mikrofon. „Wer kann dich je vergessen, vergessen, was du tatest, was du sagtest, welche Finsternis kann dich je in den Schatten rücken?“ Rakel, die Witwe des am vergangenen Freitag in Istanbul ermordeten armenischen Publizisten Hrant Dink, steht auf dem Dach eines weißen Minibusses, mit einer Menschenmenge um sich, die für Istanbul einmalig ist. Tränenüberströmte Gesichter senken sich, die Hände finden einander in wütendem Applaus. Hrant, der groß gewachsene anatolische Armenier mit dem großen Herzen, „einer von uns“, ein mutiger Mann, der geradeaus sagte, was er dachte, ein Kämpfer für die türkisch-armenische Versöhnung – er bringt bei seiner Beerdigung beide Seiten zusammen. Istanbul marschiert. Und es weint. Es weint Hrant, dem mutigen und gutherzigen Armenier nach, und es scheint, als ob Istanbul auch aneinander kuschelt angesichts dieses unerwarteten politischen Attentats, das kein gutes Zeichen für die Zukunft ist.

Die Bestattungsfeier beginnt in den Morgenstunden. Ein großer brauner Sarg wird auf der Halaskargazi-Allee im Herzen der europäischen Seite aufgebahrt. Hier waren die Redaktionsräume der Wochenzeitung „Agos“, die Hrant 1996 gegründet hatte und deren Chefredakteur er bis zum Schluss war. Hier, vor der Tür des barocken Altbaugebäudes mit dem ebenso barocken Namen „Geduld“ (Sebat) haben die Menschen schon seit den frühen Morgenstunden Stellung genommen, Hunderttausend sind es. Ein Signal gegen die „finsteren Kräfte“, die Hrants Frau in ihrer Trauerrede anspricht, die Unbekannten, die hinter dem Mord an Hrant Dink stehen. Ein 16-Jähriger ist festgenommen, ein 24-Jähriger soll zu dem Mord angestiftet haben.

„Wir heißen alle Hrant“

Es ist kein einheitlicher Trauerzug. Armenier sind genauso darunter wie Kurden, Türken, Jung und Alt, Menschen jeder Couleur – mehrheitlich links von der Mitte. Und deshalb sind kaum kopftuchtragende Frauen zu sehen.

Obwohl nur die Parolen „Wir heißen alle Hrant“ und „Wir sind alle Armenier“ zugelassen sind, skandieren kleine Gruppen junger Studenten oder militanter Kurden immer wieder: „Mörder Staat!“ oder „Nieder mit dem Faschismus!“. Zehntausende von schwarzen Medaillons am Stiel sind gedruckt worden: In Türkisch, Kurdisch und Armenisch steht darauf: „Ich bin Hrant“. Und eine Zahl: 301 – der Paragraf des türkischen Strafgesetzbuches „Verunglimpfung des Türkentums“. Dink war nach diesem Paragrafen zu sechs Monaten Haft verurteilt worden. Extrem rechte Kreise hatten Dink während des Prozesses zur Zielscheibe gemacht, zum „Türkenfeind“ erklärt.

Musik begleitet die Massen, während sich der Leichenwagen in Richtung Kirche in Bewegung setzt, mit einer Lawine von Menschen hinter sich, es spielt aus mobilen Lautsprechern das Lied „Sari Gelin“ (Die blonde Braut). Das anatolische Lied erzählt die Geschichte eines armenischen Jungen und eines muslimischen Mädchens, die trotz ihrer großen Liebe nicht zueinander finden, nicht heiraten dürfen. Das Lied gibt es in allen Sprachen dieser Erde, auch in Georgisch und Aserisch, niemand weiß, woher es stammt. Brüderlichkeit und der Traum eines friedlichen Zusammenlebens waren die Ziele des Ermordeten.

Der Dialog muss bleiben

In der Patriarchatskirche senkt ein Mann voller Trauer sein Haupt, als er von den dicht beschriebenen Blättern vor sich seine Rede in beiden Sprachen vorliest. Mesrob Mutafian, Patriarch, geistiges Oberhaupt der armenischen Gemeinde, spricht zu 300 auserwählten Gästen, darunter der türkische Innenminister Abdülkadir Aksu, der US-Botschafter, ein Vertreter des armenischen Präsidenten aus Eriwan, der armenische Erzbischof Karekin Bekciyan aus Deutschland.

„Welch ein mystischer Zufall“, sagt Mutafian, in dessen Wahlkampagne vor acht Jahren Hrant Dink aktiv mitgearbeitet hatte, „dass die türkischen und armenischen Vertreter hier zuletzt bei seiner Bestattung zusammengekommen sind. Dieser Dialog muss bleiben.“ Mutafian sagt weiter: „Wir Armenier sind keine Feinde. Angefangen mit den Schulbüchern muss gegen die Armenierfeindlichkeit in der Türkei gekämpft werden.“

Nach der Zeremonie wird Hrants Sarg hinaustransportiert, er ist in weiße Blumen gehüllt, die Sonne strahlt, es ist Frühling in Istanbul, die Tränen hören einfach nicht auf zu fließen, die Menschen applaudieren immer weiter, immer hilfloser. „Der EU-Traum ist ausgeträumt“, sagt ein Student, „wenn die uns in Brüssel nicht losgelassen hätten, wäre das nicht passiert.“ Mit Hrant Dink wird nicht nur ein großer EU-Anhänger zu Grabe getragen, sondern auch der Traum von der Mitgliedschaft in der europäischen Union.

Seine Landsleute lassen Hrant aber nicht allein, marschieren immer weiter. Am Marmarameer ist die breite Straße mit Menschen umsäumt, sie haben rote Nelken in der Hand, der Leichenwagen ist vor Blumen nicht mehr zu erkennen. Am armenischen Friedhof Balikli werden armenische Elegien gesungen, die letzten Gebete gesprochen. Jemand schluchzt. Seine Tochter nimmt die Schippe in die Hand und wirft Erde auf den Frühlingsstrauß. Niemand, der ihn kannte, kann glauben, dass dieser große, kräftige Mann, 52 Jahre, hier in dieser Grube verschwindet.