Potenziell Potenzial

Vor der heute beginnenden Hauptrunde der Handball-Weltmeisterschaft und nach der ersten Niederlage des Turniers fehlt der deutschen Nationalmannschaft auch ein überragender Torsteher

AUS HALLE ANDREAS RÜTTENAUER

Es ist viel vom Potenzial die Rede dieser Tage in Halle/Westfalen. Vom Potenzial, das die deutschen Handballer noch nicht abgerufen haben. Bundestrainer Heiner Brand hat seinen Spielern am Morgen nach der 25:27-Niederlage gegen Polen das letzte Vorrundenspiel auf Video noch einmal vorgeführt. Die Verlierer vom Montag seien „selbst ein wenig überrascht“ gewesen über ihre Fehler, so Brand gestern. „Die vorbereitenden Handlungen müssen besser vorbereitet werden“, dozierte der oberste deutsche Handballlehrer. Die Ungeduld im Angriff sei einer der Hauptgründe für die mäßigen Auftritte der Deutschen bei dieser WM. Dann kritisierte der Bundestrainer noch etwas: die Leistung der Torhüter. Die hätten sich oftmals zu früh für eine Ecke entschieden. In der Tat gab es bislang nur wenige Paraden zu bejubeln. Die Auftritte der Torhüter Henning Fritz und Johannes Bitter sind bisher nicht mehr als durchschnittlich.

„Das ist nicht überragend, aber auch nicht schlecht“, sagte Johannes Bitter, der 24-jährige Torhüter des SC Magdeburg, zu seiner Quote im Spiel gegen Polen. 33 Prozent der Bälle, die auf sein Tor geworfen wurden, konnte er abwehren. Henning Fritz, der in der 18. Minute für Bitter eingewechselt worden war, hielt auch nicht besser. 17 Minuten vor Schluss durfte wieder Bitter zwischen die Pfosten – geändert hat sich nichts. Karol Bielecki (7 Tore), der polnische Rückraum-Hüne, traf beinahe nach Belieben, fast so, als hätten die Deutschen ganz ohne Torhüter gespielt. Der 32-jährige Fritz, der vor der WM vom Bundestrainer als „Nummer eins“ bezeichnet wurde, immerhin Welthandballer des Jahres 2004, sucht immer noch seine Form. Nun hat er einen Konkurrenten im eigenen Team. Zwar konnte auch Bitter bislang nicht überzeugen, er scheint jedoch gemerkt zu haben, dass die Chance, Henning Fritz zu verdrängen, noch nie so groß war wie in diesen Tagen.

„Wenn wir Weltmeister werden, dann ist mir am Ende total egal, wie viel Einsatzzeit ich gehabt habe“, sagt Bitter zwar. Doch er wirkt kämpferisch. Er geht davon aus, dass er nicht nur deshalb gegen Polen begonnen hat, weil er die Rückraumspieler des Gegners, Bielecki und Grzegorz Tkaczyk, die wie er in Magdeburg spielen, bestens kennt. „Jedes Training, jedes Spiel, ist eine Möglichkeit, sich zu beweisen“, meint Bitter. Und: „Für mich ist das motivierend.“ Breitbeinig steht der 2,04-Meter-Mann mit verschränkten Armen am Rande des Raums, in dem die Nationalspieler zum Treff mit den Pressevertretern eingefunden haben. „Klar ist Henning Fritz nominal die Nummer eins“, meint er, „aber das spielt im Handball ohnehin keine große Rolle.“ Und dann spricht er noch einmal über seine Leistung im Spiel gegen Polen: „Ich war eigentlich immer in der richtigen Ecke, ich habe mir nichts vorzuwerfen.“

Währenddessen sitzt Henning Fritz an einem Tisch, umringt von Medienvertretern. Er äußert sich selbstkritisch: „Gerade bei den Würfen von Bielicki war ich oftmals zu spät dran.“ Den Verteidigern wollte er keine Schuld an den vielen Rückraumtreffern zuschieben. „Ich werde hier nicht die Abwehr anscheißen“, so Fritz. Nun war wieder von seiner Krise die Rede. Er hat einen Abstieg hinter sich, der für viele Schlagzeilen gesorgt hat: Der als Wunderkeeper angehimmelte Weltstar ist bei seinem Klub THW Kiel nur noch die Nummer drei. Das Vertrauen, das Heiner Brand ihm bis heute entgegenbringt, habe ihm geholfen, sagt Fritz. Andererseits sei es nicht so leicht, „den Hebel von einem Tag auf den anderen umzulegen“. Nachdenklich wirkt er. Henning Fritz weiß, dass er seine sportliche Krise noch nicht überwunden hat.

Johannes Bitter hat Fritz wohl nur deshalb noch nicht endgültig verdrängt, weil ihm noch kein wirklich herausragender Auftritt gelungen ist. „Das kann immer kommen“, sagt die nominelle Nummer zwei. Und dann fällt es wieder, das eine Wort, mit dem sich die deutschen Handballer vor dem ersten Spiel der heute beginnenden Hauptrunde gegen Slowenien (17.30 Uhr, ARD) wie mit einem Mantra starkreden: Das „Potenzial“ dazu sei da.