„Keiner möchte gerne im Heim leben“

Diese Gesellschaft drückt sich um das wichtige Zukunftsthema der Alterspflege herum, findet der Publizist Claus Fussek. Dabei leben wir in einem absurden System: Mit schlechter Pflege wird viel Geld verdient, gute Pflege dagegen bestraft

taz: Herr Fussek, vom wem wollen Sie persönlich denn im Alter gepflegt werden?

Claus Fussek: Meine Kinder haben mir ein Schild geschenkt: Sei lieb zu deinen Kindern, denn sie suchen dir später das Heim aus.

Klingt wie eine Drohung?

Ich will auf keinen Fall in ein Doppelzimmer im Heim, wo ich Windeln tragen muss, damit ich leichter zu pflegen bin. Ich will aber auch nicht den ganzen Tag pflegebedürftig zu Hause liegen, wo allein meine Kinder und meine Frau für mich verantwortlich sind.

Welche Reformen sind in der Pflegeversicherung notwendig, damit Sie keine Angst vorm Altern haben müssen?

Hier ist ein grundsätzliches Umdenken nötig. Wir leben in einem absurden System: Schlechte Pflege wird belohnt und gute bestraft. Als Herzstück der Pflege waren einst Prävention und Rehabilitation gedacht. Ein alter Mensch, mit dem Krankengymnastik oder Bewegungstherapie gemacht wird, hat so die Chance, dass er nicht pflegebedürftig wird. Diese Dinge müsste die Krankenkasse bezahlen, profitieren würde die Pflegeversicherung. Letztendlich fühlt sich keine von beiden zuständig. Das ist ein grundlegender Systemfehler. Meine Kernforderung lautet also: Zusammenführung von Kranken- und Pflegekasse. Das zweite Grundproblem ist, dass in die Betten gepflegt wird. Jeder versucht möglichst viel Geld, das heißt, eine höhere Pflegestufe zu erhalten. Gute Pflege wird bestraft. Wenn zum Beispiel eine Pflegekraft es schafft, dass die alte Frau wieder allein zu essen beginnt, wird dieser Mensch zurückgestuft, und das Heim oder der Pflegedienst bekommen weniger Geld. Um dieses Problem anzupacken, muss das Thema Pflege eine politische Gewichtung bekommen.

Seit drei Jahren soll eine solche Reform in Kraft treten. Was würde es für Pflegende und Gepflegte bedeuten, wenn die Reform erneut verschoben wird?

Wir haben eine demografische Entwicklung, die – neben der Arbeitslosigkeit – das größte gesellschaftliche Thema sein müsste. Aber es ist so ähnlich wie beim Klimawandel: Wir wissen, dass die häusliche Pflege längst durch sogenannte Illegale aus osteuropäischen Ländern aufrechterhalten wird. Wenn wir die morgen alle zurückführen würden, hätten wir den Kollaps.

Wir wissen, dass in vielen Heimen seit langem unwürdige Zustände herrschen. Weil sich die Gesellschaft aber nicht dafür interessiert, kann das Thema schöngeredet werden. Selbst die eigenen Funktionäre aus den Heimen bescheinigen der Gesundheitsministerin, dass eigentlich alles in Ordnung ist. Wir müssen endlich offensiv an das Thema herangehen: Wie wollen wir, unsere Eltern und Großeltern, im Alter leben. Und dann kommen wir zu dem Ergebnis: Keiner möchte im Heim leben.

Da sind sich beide Koalitionspartner einig: Die ambulante Pflege soll gestärkt werden. Beseitigt dies die Mängel, die sie in den Pflegeheimen anprangern?

Das fordern wir seit 20 Jahren, aber der Hintergedanke bei den Politikern ist, es soll kostenneutral sein. Das geht eben nicht.

Wie viel Geld ist nötig?

Es gibt meines Erachtens genug Geld im System. Aber es geht nicht, dass einfach alle ihre Pfründen behalten.

Wen wollen Sie enteignen?

Meine Kernthese lautet: Das „Produkt“ Pflege ist nicht marktfähig. Ich kann nicht börsenorientierte Heimträger durch Beiträge einer Pflegeversicherung subventionieren. Was uns fehlt, ist absolute Kostentransparenz. Ich möchte wissen, wozu das Geld verwendet wird.

Wollen Sie die Pflege verstaatlichen?

Man muss es anders formulieren: Pflege ist ein gesamtgesellschaftliches Thema und kann nicht Marktgesichtspunkten unterliegen. Freie Marktwirtschaft, und das sage ich emotionslos, heißt Gewinnmaximierung.

Krankenhäuser und Pflegeheime arbeiten zusammen und profitieren voneinander. Eine Pflegekraft sagt mir: Wir bekommen ständig Menschen mit Magensonden und Druckgeschwüren. Im Krankenhaus heißt es: Nein, genau umgekehrt, wir bekommen die Patienten aus den Pflegeheimen. Aber solche Druckgeschwüre, Dekubitus genannt, sind im System Wirtschaftsfaktoren. Dem Pflegeheim wird das leere Bett zu 80 Prozent weiter bezahlt, wenn der Bewohner ins Krankenhaus eingewiesen wird. Auch der Rettungsdienst verdient pro Fahrt. Ein großes Druckgeschwür, das entsteht, weil jemand schlecht gepflegt wird, kostet 10.000 bis 30.000 Euro in der Behandlung.

Man könnte für einen Bruchteil des Geldes eine menschenwürdige Behandlung organisieren, die Arbeitszufriedenheit könnte steigen und Milliarden würden eingespart.

Das klingt sehr einfach.

Es ist absurd: Es ist alles bekannt, aber es ändert sich nichts. Denn am System schlechter Pflege werden Milliarden verdient. Man verdient mit Magensonden, mit Psychopharmaka, mit Windeln. Man muss nur mal auf eine Altenpflegemesse gehen, da gibt es alles. Pflege ist ein Riesengeschäft geworden. Die Träger expandieren und jammern gleichzeitig – so ähnlich wie die Pharmalobby.

Ist die Politik zu feige?

Keiner traut sich ans System ran. Im Grunde müsste man seit vielen Jahren aus den bekannten Erkenntnissen Schlüsse ziehen. Warum bauen wir überhaupt noch große Heime, wenn niemand hineinmöchte? Das ist wie bei der Gesundheitsreform. In den Gremien sitzen die Lobbyisten der Heimträger, argumentieren mit Sachzwängen und meinen: Bitte, tastet uns nicht an. Und dann kommt irgendein Murks raus: etwa, dass die Angehörigen ein halbes Jahr von der Arbeit freigestellt werden sollen, um die Pflege zu übernehmen.

Das ist ein Vorschlag aus dem SPD-geführten Bundesgesundheitsministerium. Was ist daran falsch?

Ja, welcher Arbeitgeber stellt die denn frei? Und überhaupt, was passiert nach einem halben Jahr – dann stirbt die Mutter?

Welche Anreize muss es geben, damit Kinder ihre Eltern daheim pflegen?

70 bis 80 Prozent pflegen ihre Eltern doch schon zu Hause. Ich weiß nicht, wie viele es noch werden sollen. Ich plädiere für einen Ausbau alternativer Wohnformen – für Tagesstätten, wohin Angehörige ihre Mutter oder ihren Vater zu bezahlbaren Preisen tagsüber geben können. Wenn meine Mutter tagsüber gut versorgt ist, könnte ich mir vorstellen, dass ich sie abends daheim pflege. Und am Wochenende hätte ich Zeit, mit meinen Kindern in die Berge zu gehen.

Sie meinen: Kitas für Greise?

Genau, das ist dieselbe Situation. Was die pflegenden Angehörigen brauchen, ist, dass sie mal ausspannen können.

Die Koalitionspartner wollen die Sätze in der häuslichen Pflege auf das Niveau der Heimpflege heben. Reicht das Ihrer Meinung nach aus?

Das ist ein kleiner Anreiz, wird aber das Grundproblem nicht lösen. Sie werden nicht genügend Angehörige finden, die wegen dieser paar hundert Euro pausieren. Sie müssen die Strukturen ändern. Dabei dürfen wir nicht die Fehler der Gesundheitsreform wiederholen.

Welche meinen Sie?

Wir dürfen das Problem nicht ideologisieren – Kopfpauschale da, Bürgerversicherung hier. Das ist kein Thema für Parteienstreit. Pflege muss zur Schicksalsfrage der Nation werden.

INTERVIEW: ANNA LEHMANN