Schadhafte Stellen ausbessern

Gutes tun als subversive Strategie: Das Regieduo Hofmann & Lindholm, spezialisiert auf Störungen im Warenkreislauf, bereitet am Schauspiel Essen sein neues Stadterkundungsprojekt „Séancen – Versuche zur Aufhebung der Schwerkraft“ vor

VON HANS-CHRISTOPH ZIMMERMANN

Matthias Turowski hat offenbar einen schweren Gang vor sich. Beflissen legt er alle privaten Dinge auf den Tisch: Handy, Schlüssel, Notizblock mit Stift, Geldbörse, Uhr und lose Münzen. Er trifft Vorbereitungen, als ob er ins Gefängnis ginge, und berichtet doch vom Gegenteil. Matthias Turowski hat Gutes getan. Minutiös erzählt er, wie er in einem Essener Geschäft anonym die ausstehenden Schulden ihm unbekannter Menschen bis zu einer Gesamtsumme von 50 Euro beglichen hat.

Krankhafter Altruismus oder Helfersyndrom? Weder noch. Die Szene stammt aus der Produktion „Séancen – Versuche zur Aufhebung der Schwerkraft“, die das Regieduo Hofmann & Lindholm gerade als Koproduktion des Schauspiels Essen und des FFT Düsseldorf realisiert. Anders als der Titel vermuten lässt, handelt der Abend jedoch nicht vom Spiritismus. „Séancen“ fungiert als Teil des neuen Stadterkundungsprojekts „Glaube Liebe Hoffnung“ des Essener Schauspiels. Hofmann & Lindholm sind dabei für den ersten Teil zuständig, in dem es vor allem darum gehe, so Sven Lindholm, wie „Gutes tun als Basis des Zusammenlebens“ funktioniert.

Hannah Hofmann (* 1971) und Sven Lindholm (* 1968) sind aus der Talentschmiede des Gießener Instituts für Angewandte Theaterwissenschaft hervorgegangen. Seit 1999 realisieren sie Projekte am Schnittpunkt zwischen Bildender Kunst, Theater und Performance. In Arbeiten wie „Aspiranten“, „Vom Feuer“, „Geschichte des Publikums“ oder „Séancen“, das am 27. Januar in Essen Premiere hat, untersuchen sie soziale Strukturen und Systeme nach Spielräumen für Eigenverantwortung und Entscheidungsfreiheit. Als Akteure ihrer Projekte schicken sie nur Laien, auch „Alltagsspezialisten“ genannt, in die Wildbahn des Alltäglichen und lassen sie die Probe aufs subversive Exempel machen. So sah man in der 2006 am Düsseldorfer FFT realisierten Produktion „Geschichte des Publikums“ Alltagsspezialist Roland Görschel, wie er Bücher aus der Universitätsbibliothek entleiht und sie gegen akribisch bis zu Gebrauchsspuren kopierte Doubles austauscht.

Auf der Bühne werden die subversiven Akte meist mittels Videoeinspielungen und minutiöser, sachlicher Berichterstattung in streng choreografierten Arrangements vorgestellt. Doch Produktionen von Hofmann & Lindholm erschöpfen sich nicht in ihrem szenischen Substrat. Ihnen gehen umfangreiche Recherchen, Aktionen und Dreharbeiten mit den Alltagsspezialisten voraus. Zudem hofft das Regieduo auf Nachwirkungen. Ihre Produktionen verstehen sie als „Gebrauchsanweisung“ fürs Publikum, bei der es nicht darum geht, „die Regeln, nach denen gesellschaftliches Leben funktioniert, zu sprengen, sondern beweglich zu machen.“ Utopie verdichtet sich im Ausprobieren von Möglichkeiten, die lebhaft zwischen subversiver Beweglichkeit und neoliberaler Flexibilität changieren.

Den Inszenierungen von Hofmann & Lindholm haftet so oft etwas Strenges, fast Wissenschaftliches an. Man liegt mit der Assoziation an Brechts Lehrstücke, die ja auch auf gesellschaftlich signifikante Verhaltensmuster zielten, nicht ganz falsch. Den Begriff der Wissenschaftlichkeit hören die beiden allerdings nicht gerne. Sven Lindholm spricht von „Forschung“ oder „Phänomenologie“. Und Hannah Hofmann kontert den Vorwurf der „Emotionslosigkeit“ mit der Bezeichnung „undramatisch“: „Wir lassen die Motive für das Handeln außen vor.“

In der Aussparung von individueller Handlungsmotivation liegt denn auch ein entscheidender Unterschied zur ebenfalls mit Laien arbeitenden Gruppe Rimini Protokoll, die ihre Stücke gerade aus der gebrochenen Biografie der Mitwirkenden entwickeln. Auch wenn beide Gruppen auf dem Feld theatralischer Dokumentarformen experimentieren, Hofmann & Lindholm gehen dabei in Sachen Authentizität und Fiktion einen entscheidenden Schritt weiter als Rimini Protokoll. So wie ihre „Alltagsspezialisten“ das Verhältnis von Individualität, Bühnenrolle und sozialer Rolle zum Tanzen bringen, so sind die subversiven Akte nicht wirklich zu beglaubigen. Wenn in der Produktion „Aspiranten“ eine Frau behauptet, Altkleider wieder in den Warenkreislauf eines Kaufhauses einzuschmuggeln, ist nicht zu klären, ob hier Erfundenes authentifiziert oder Wirklichkeit fiktionalisiert wird. Allerdings sollte man mit Begriffsgeschützen wie Handlungsmotivation, Rolle, Fiktion oder Normativität vorsichtig sein: die Bühnenvorgänge in Hofmann-&-Lindholm-Produktionen entspringen kleinen Alltagsaktionen, die allzu leicht unter der Theorieüberlast zu ersticken drohen.

Mit „Séancen“ betreten Hofmann & Lindholm nun allerdings Neuland. Ihre Alltagsspezialisten arbeiten sich diesmal nicht an gesellschaftlichen Strukturen, sondern, indem sie Gutes tun, an anderen Menschen ab. „Zum ersten Mal gibt es ein klares Gegenüber“, sagt Sven Lindholm. Wenn sich die „Alltagsspezialistin“ Uta Wallstab in eine Turnhalle begibt und vorsätzlich Löcher und schadhafte Stellen in der Kleidung Jugendlicher ausbessert, dann ist das, so Hannah Hofmann, „vorauseilender Dienst am Nächsten“. Jeder erwarte doch eigentlich, wenn er etwas Gutes tue, eine Gegenleistung. Insofern, ergänzt Sven Lindholm, ist „Gutes tun ohne erwartetes Gegenhandeln im Kapitalismus subversiv“.

„Séancen – Versuche zur Aufhebung der Schwerkraft“ von Hofmann & Lindholm hat am 27. 1. in der Spielstätte Casa des Schauspiels Essen Premiere