Üble Fight-Clubberer

Brauchen wir nach der WM mehr Handball in Deutschland? Wohl kaum, meint der taz-Handballexperte, der sich die Ringkämpfe aus nächster Nähe angesehen hat

Hat eigentlich irgendjemand überlegt, was da gefeiert wird in Deutschland seit Sonntagabend? Kann irgendjemand sagen, um was es eigentlich geht beim Handball? Hat irgendwer die Sportart begriffen? Warum dürfen alle Rückraumspieler vier, fünf, sechs Schritte machen, obwohl das Regelwerk nur drei erlaubt? Warum zeigen die Schiedsrichter einmal die gelbe Karte, wenn ein Spieler seinem Gegner an die Gurgel geht, und warum verhängen sie ein anderes Mal beim selben Vergehen eine Zweiminutenstrafe? Warum bleiben die meisten Brutalo-Einlagen ungesühnt? Ja, wir sind Weltmeister. Endlich. Aber worüber haben sich die Menschen vorm Kölner Rathaus wirklich gefreut? Würden sie ihre Kinder Handballer werden lassen, Kreisläufer gar?

Johannes Bitter, der Ersatztorhüterheld des Finales, hat sich nach seiner Einwechslung den Spielball gegriffen und ihn sich etliche Male gegen den Kopf gedonnert. „Bilder wie vom Affenfelsen“, meinte ein Kollege auf der Pressetribüne. Widersprochen hat ihm niemand. Und doch erschienen am nächsten Tag überall hymnische Leitartikel, die Handball als die schönste, reinste und wahrste aller Leibesübungen lobpreisten.

Szenenwechsel: Nach dem Spiel gegen Spanien wandert der Defensiv-Spezialist Oliver Roggisch mit einem blauen Auge durch die Mixed Zone. Er trägt es wie eine Auszeichnung. Dann zeigt er auf seinen geschwollenen Orden. „Hier könnt ihr sehen, wie gut ich war“, soll das wohl heißen. Gesten aus der Jugendfreizeitstätte, wo selbst der begabteste Sozialpädagoge nicht verhindern kann, dass der tumbe Aufschneider das höchste Ansehen genießt.

Dominik Klein, gerade 23 Jahre alt geworden und der Jüngste im Team („Ich trage noch die Bälle“), durfte auch ein paar Mal mitspielen. Er wirkt schmächtig, ein Fläumchen sprießt auf seinen roten Wangen. Er redet vom Spaß, den er im Handballsport sucht. Es ist eine üble Clique, die er sich da ausgesucht hat, ein wahrer Fight Club.

Handballspiele sind ritualisierte Gruppenringkämpfe im griechisch-römischen Stil bei gleichzeitiger Zirkulation des Balles. Es gibt Partien, da überwiegt das Ballspiel. Meistens aber wird eine Begegnung im Handgemenge entschieden. „Den Grundstein für unseren Erfolg haben wir in der Abwehr gelegt“, sagte Trainer Heiner Brand nach jedem Sieg. Klartext: Die Deutschen waren die besten Fighter des WM-Turniers, keiner hat so zugepackt wie sie. Respekt dafür. Sie haben getan, was sie tun mussten.

In den Hallen wurden sie gefeiert von einem euphorisierten Publikum. Eine schwarz-rot-goldene Masse, ein gleichgeschaltetes Kampfsportpublikum, aufgepeitscht von einem Hobby-Moderator aus Hamburg, dessen Vorbilder in den ausgehenden 30ern des vorigen Jahrhunderts gewirkt haben müssen. Mit fuchtelnden Armen forderte er die Anwesenden immer wieder auf, „Deutschland“ zu grölen. Das Publikum folgte seinem Anführer. Der ermunterte die Fans dann, den „offiziellen WM-Song der deutschen Handballnationalmannschaft“ mitzuträllern. „Wenn nicht jetzt, wann dann“, schallte es durch die Arenen. Ein Ohrwurm nach bester Gassenhauerart ohne ironische Brechung. Die Kölner Schunkel-Kombo „Höhner“ ist Rex Gildo, nicht Guildo Horn. Ihr Song, der stilistisch zwischen Matthias Reim und Roberto Blanco angesiedelt ist, wurde zur Hymne der vergangenen zwei Wochen. Handball in Reimkultur: „Das kann keiner – wie der Heiner.“ Die Fußball-WM war Pop, Basketball ist, nun ja, Hiphop, Handball ist deutscher Schlager.

Und der soll den endgültigen Siegeszug antreten? Schon jetzt gibt es so gut wie keinen Schüler im Lande, der nicht irgendwann im Sportunterricht Handball spielt. Mehr als 800.000 Leute sind in den Handballklubs des Landes registriert. Die Szene ist groß genug, um sich immer wieder selbst zu reproduzieren. Der deutsche Schlagersport war nie vom Aussterben bedroht. Braucht es jetzt wirklich mehr davon? Eine Handball-WM wird so schnell nicht wieder in Deutschland stattfinden. Man darf das auch gut finden.

ANDREAS RÜTTENAUER