Der Jude von nebenan

Eine Ausstellung macht anschaulich, wie Schöneberger Juden in der NS-Zeit lebten – und verfolgt wurden

Der jüdische Schriftsteller Alfred Kerr floh über die Schweiz und Frankreich nach England, als Hitler an die Macht kam. Seine Tochter Judith schilderte die beginnende Judenverfolgung und die beschwerliche Reise ins Exil später in dem Buch „Als Hitler das rosa Kaninchen stahl“. Die Geschichte Kerrs kennt fast jeder. Was die wenigsten wissen: Vor seiner Emigration hat Alfred Kerr in der Bamberger Straße 32 in Schöneberg gelebt.

„Wir wollen den Besuchern über einzelne Schicksale ein Stück ihrer Geschichte näherbringen“, sagt Kunstamtsleiterin Katharina Kaiser über die Ausstellung „Wir waren Nachbarn“ im Rathaus Schöneberg. Ab Montag werden hier mehr als hundert Geschichten von jüdischen Menschen präsentiert, die vor oder während der Nazizeit in Schöneberg gelebt haben. Anlässlich des Gedenktags für die Opfer des Nationalsozialismus findet morgen ab 18 Uhr die offizielle Eröffnung im Rathaus Schöneberg statt.

Im Zentrum der Ausstellung stehen Alben, die die Biografien in Wort und Bild wiedergeben. Neben Alfred Kerr findet man hier auch Else Lasker-Schüler und Albert Einstein. Von Kinder- und Jugendträumen über Schule und Berufsleben bis zu den schleichenden Veränderungen durch das NS-Regime werden Lebensgeschichten erzählt.

Zwei Drittel der Biografien sind mit der Unterstützung von Zeitzeugen und Angehörigen aus bisher unveröffentlichtem Familienbesitz erstellt worden. Katharina Kaiser, die das Kunstamt seit 1982 leitet, arbeitet seit mehr als zwei Jahrzehnten an der Materialsammlung. Kaiser führte hunderte Gespräche und war bei ihrer Suche auf Netzwerke der Familien angewiesen.

Neben den 109 Biografien haben Ausstellungsbesucher stündlich die Möglichkeit, eine Filmcollage aus Interviews mit jüdischen und nichtjüdischen Zeitzeugen zu sehen. An den Wänden der Rathaushalle hängen zahllose vergilbte Karteikarten – winzige Mahnmale für die rund 6.000 Schöneberger Juden, die während des Holocaust deportiert und ermordet wurden.

Trockene Fakten allerdings erfährt man in dieser Ausstellung kaum. „Mit abstrakten Zahlen können viele gar nichts anfangen“, sagt Kaiser. „Wenn man aber erfährt, dass im selben Haus oder nebenan Deportationen stattgefunden haben oder Menschen ins Exil fliehen mussten, hat man eine persönliche Verbindung.“ NANA GERRITZEN

Die Ausstellung im Schöneberger Rathaus ist bis zum 22. April geöffnet