Zeit für Exzellenz

Interkulturell, interdisziplinär – so sollen die Geisteswissenschaften sein. Dafür braucht es Freiraum. Und Spaß am Abseitigen. Ein Blick in die Praxis

VON ANTJE KORSMEIER

Viel ist in diesen Tagen von der Notwendigkeit der Geisteswissenschaften die Rede. Von den Kompetenzen, die ein entsprechendes Studium vermittle. Und von dem innovativen Potenzial, auf das unsere Gesellschaft nicht verzichten könne. Geradezu euphorisch entdeckt so manch öffentliche(r) RednerIn bei der Ausrufung des Jahres 2007 als dem „Jahr der Geisteswissenschaften“ diese Disziplinen für sich und schert sich wenig darum, dass die Bezeichnung „Jahr der Kulturwissenschaften“ wohl passender gewesen wäre, angesichts der beschworenen Transferleistungen zwischen Wissenschaft, Kultur und Technik sowie der geforderten Ausbildung von „interkultureller Kompetenz“.

Doch Geist hin, Kultur her – was passiert an Orten des Wissens, die praktizieren, was etwa Frau Schavan, die Bildungsministerin, gern blumig in Worte zu fassen sucht? Wie sieht die Arbeit von jenen konkret aus, die Ernst machen mit dem Austausch unterschiedlicher Wissenskulturen? Ein gutes Beispiel sind die „Zwischenräume“, eine Veranstaltungsreihe in Berlin, in der vergangenen Freitag „fixe Ideen“ untersucht wurden. Ungewöhnliche Gedankenzündungen, wiederkehrende Ideen und verfestigte Wahnvorstellungen – all das fällt unter den Begriff einer fixen Idee, und damit ist auch schon die Vielfalt möglicher Forschungsperspektiven angedeutet, mit denen sich die „Zwischenräume“ befassen.

Seit Januar 2001 treffen sich Mitarbeiter von vier Berliner Wissenschaftsinstitutionen im Halbjahresrhythmus zu einem Austausch über Fragen, die Schnittstellen tradierter Untersuchungsgebiete markieren. Alle Kooperationspartner – das Helmholtz-Zentrum für Kulturtechnik der Humboldt-Universität (HZK), das Zentrum für Literaturforschung (ZfL), das Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte und seit kurzem auch das Institut für Deutsche und Niederländische Philologie der Freien Universität (FU) – verfolgen einen interdisziplinären Ansatz. Ihr Ziel ist die Vernetzung von Problemstellungen der Kulturwissenschaft, Technik und Naturwissenschaft. Das Max-Planck-Zentrum für Wissenschaftsgeschichte (MPIWG) etwa fragt nach der Genese wissenschaftlicher Grundbegriffe und Praktiken und deren Rückwirkungen auf Formen menschlicher Erfahrung. Grundlagenforschung also, die nichts mit Atomen oder Genen zu tun hat, bei der die maßgeblichen Ressourcen Originalität und Interdisziplinarität sind.

Entsprechend groß war der Bogen bei den „fixen Ideen“, die den zweiten Teil einer Themenreihe über „Wissenschaftsfiktionen“ bilden, Spaß am scheinbar Obskuren war auch dabei. Zunächst wurde die Vorstellung der Seelenwanderung bei Lichtenberg erörtert, die Jutta Müller-Tamm (FU) formal als Wissensfigur deutete, deren „diskursökonomische Notwendigkeit“ sie hervorhob. Martin Hense (FU) hingegen bettete die Seelenwanderung in Lichtenbergs Gesamtwerk ein und umkreiste dessen Idee von der Menschheit als einem Polypen. Demgegenüber wies Erik Porath (ZfL) auf die Doppeldeutigkeit von „fix“ im Sinne von „fest“ einerseits und „flink“ andererseits hin, um unter Bezug auf Ideenflucht und Assoziationismus bei Freud die Spannung im Begriff der Fixierung auszuloten. Philipp von Hilgers (MPIWG) schließlich rekurrierte auf Thomas Pynchons Roman „Gravity’s Rainbow“ und präsentierte die Blackbox als ein resistentes Denkmodell des 20. Jahrhunderts.

Was passiert nun, wenn Interdisziplinarität so geballt aufeinandertrifft? Wer ein anything goes befürchtet, liegt falsch. Denn es herrschte intensive Arbeitsatmosphäre, das Format der „Zwischenräume“ ist der Workshop: Die Vorträge stellen erste Ergebnisse vor, für Diskussion ist genügend Raum, und im Gegensatz zu manch anderem wissenschaftlichen Seminar stand bei allen Wortmeldungen, bis auf eine koreferierende Ausnahme, nicht die Selbstdarstellung, sondern die Bemühung um das Weiterdenken der vorgestellten Ideen im Vordergrund. Vielleicht ist gerade der Umstand, dass man sich nicht auf den vermeintlichen Selbstverständlichkeiten einer Einzeldisziplin ausruhen kann, der Grund für das konstruktive Gesprächsklima.

Immer wieder wird in dieser Runde nachgefragt: Wie tragfähig sind Wissensfiguren und Metaphern? Wann ist es überhaupt sinnvoll, Heterogenes miteinander in Verbindung zu bringen? Uwe Wirth, wissenschaftlicher Geschäftsführer des ZfL, spricht daher von „unterschiedlichen Stilen des Interdisziplinären“, die fruchtbar gemacht werden können; ein maßgebliches Plus der „Zwischenräume“ sieht er darin, dass sie Freiräume des Ausprobierens sind. Und natürlich ist wichtig, dass Zeit da ist. Zeit für Austausch, Zeit für Abseitiges, Zeit für, nun ja, Exzellenz.

Wär schön, wenn diese Einsicht mal zu einer fixen Idee der Bildungspolitiker würde.