ORHAN PAMUK HAT GRUND, SICH IN DER TÜRKEI NICHT SICHER ZU FÜHLEN
: Jugoslawien als Menetekel

Ein armenischer Aktivist wird in Istanbul ermordet. Ein Nobelpreisträger muss aus Angst vor einem möglichen Attentat ins Ausland fliehen. Journalisten und Akademiker werden unter Personenschutz gestellt. Was ist der Auslöser der rechtsextremen Gewaltwelle in der Türkei?

Was auf den ersten Blick mit der armenischen Frage zusammenzuhängen scheint, hat seine tiefere Ursache in dem ungelösten Kurdenproblem und den neuesten Entwicklungen im Nahen Osten. „Die USA gründen einen Kurdenstaat im Nordirak, die EU unterstützt das, Ostanatolien soll abgetrennt werden“ – das ist für viele Türken keine Theorie mehr, sondern Gewissheit. Die armenischen Nationalisten mit ihren maximalen Forderungen nach einem Landkorridor für Armenien bis zum Schwarzen Meer als Entschädigung für den „Völkermord“ gießen Öl aufs Feuer. Nicht nur türkische, sondern auch kurdische, armenische, griechische Nationalisten feiern derzeit fröhliche Urständ. Die Angst vor jugoslawischen Zuständen scheint berechtigt.

Die türkischen Intellektuellen und Reformer hatten eine andere Vision: die einer modernen, aufgeklärten, multikulturellen, aber ungeteilten Türkei, die mit Würde der EU beitritt – eine zivile und zivilisierte Türkei. Jetzt, wo dieser Traum, auch dank der vielen Türkeigegner in der EU, in einige Ferne gerückt ist, bleibt man unter sich. Mit einer Regierung und einem Polizeiapparat, der Hrant Dink trotz 17 eingegangener Hinweise nicht vor einem Attentat schützen konnte.

Der Frust ist mächtig gewachsen. Man braucht kein Hellseher zu sein, um vorauszusagen, dass das Ganze wieder einmal in einem Ausnahmezustand enden wird. Das Gegenmittel: ein gewaltfreies Engagement für eine ungeteilte Türkei mit einem demokratisierten, laizistischen Regime, in dem jeder nach seiner Fasson selig werden kann. Diese Vision ist ohne Alternative und hat Millionen stiller Anhänger. Alle, die nicht für gewaltsame Trennung, sondern für friedliche Koexistenz sind, müssen jetzt der Gewalt abschwören. Denn ein Nationalismus kommt selten allein. DILEK ZAPTCIOGLU