Eine Nacht unter Nomaden

Erstmals gab es eine lange Nacht der Wohnungslosenhilfe. Die nächtliche Reise führt an Orte, die im Schatten der Metropole liegen. Und zu Menschen, deren Geschichten gar nicht so weit weg sind

von WALTRAUD SCHWAB

Zwei Männer stehen vor der Stadtmission in der Lehrter Straße. Einer knallt seine abgegriffene Tasche auf den Boden. Halb acht abends ist es. Die beiden sind eineinhalb Stunden zu früh dran, um in der Notübernachtung ein Bett zu kriegen. „Hören Sie, ich bin ein guter Mensch“, schreit der eine. Unruhig läuft er auf und ab, dann verzieht er sich ins Gebüsch, um zu kotzen.

Der andere dagegen bleibt wie angewurzelt stehen. Durch seine dicken Brillengläser fixiert er jeden, der ihm gegenübertritt, als warte er auf eine Ansprache. Seit wann sind Sie obdachlos? „Drei Wochen“, antwortet er bereitwillig. Die Wohnung weg? „Ja, die Wohnung weg.“ Davor die Arbeit weg? „Ja, die Arbeit weg?“ Bei der Müllabfuhr war er. Dann die Frau weg? Er nickt. Alkohol? Wieder nickt er. Tränen rollen ihm über die Wangen. „In drei Wochen geht es zum Entzug“, sagt er. Es – nicht er. „Danach sieht man weiter.“ Man – nicht er.

Es ist die lange „Nacht der Wohnungslosenhilfe“. Da sind Begegnungen wie diese nicht ausgeschlossen, obwohl es weniger ums Elend geht, sondern um den Umgang damit. An neun Orten, verteilt über die ganze Stadt, stellen sich Einrichtungen vor, die mit Obdachlosen, Stadtnomaden und Trebegängerinnen arbeiten. Die Notübernachtungseinrichtung, vor der die beiden Männer warten, liegt versteckt hinterm Haus der Berliner Stadtmission in der Lehrter Straße unweit des Hauptbahnhofes. Vor dem Stadtmission aber steht das Arztmobil der Caritas und bietet dem Publikum alkoholfreien Punsch und Erbsensuppe.

Auf dem sechs Quadratmeter großen fahrbaren Sprechzimmer werden Menschen ohne Papiere und Krankenschein versorgt. Das Arztmobil fährt zu Suppenküchen, zu Nachtcafés, zu Treffpunkten an Bahnhöfen. Verbände werden angelegt, Bluthochdruck, Wasserbeine, Grätze behandelt. Fotos an den Wänden zeigen, dass es nichts zu beschönigen gibt: Da sind riesige, offene Beine zu sehen, Verbrennungen und schwarzes, totes Fleisch.

„Die Lebenssituation der Leute ist krass“, sagt Theresia Böhm. Sie war 18 Jahre lang OP-Schwester, bevor sie zum Arztmobil kam. Im OP sei alles steril und auf Kommando, ohne Kontakt zu den Patienten. Hier aber sei das Persönliche so wichtig wie die Tablette. „Es sind oft gutmütige Leute, die auf der Straße landen.“

Hinterm Arztmobil ist die Krankenstation der Stadtmission. Dort können 20 Wohnungslose mit Krankheiten, die sie ans Bett, aber nicht in eine Klinik zwingen, vorübergehend leben. „Hier kommen Leute an, die haben noch nicht mal einen Ausweis“, sagt Veronika Poppe. Als Sozialarbeiterin sorgt sie dafür, dass die Leute wieder amtlich registriert werden. „Ohne Krankenversicherung keine Behandlung beim Arzt.“ Okay, manchmal fänden sie auch so Wege.

Sie führt ins Behandlungszimmer. Eukalyptusgeruch hängt in der Luft. „Hier riecht es oft mehr nach Mensch als nach Menthol“, meint Poppe. Im Klartext: Es stinkt. Meist schämten sich die Obdachlosen dafür, aber die Krankenschwestern lassen ein Bad einlaufen, holen frische Klamotten aus der Kammer.

Auf dem Behandlungstisch liegt eine Schachtel mit Tabak und Blättchen. Daneben ein Heft. Täglich wird notiert, wer sich was anschreiben lässt: „3. 2. Joseph, TB + BL, 4. 2. Hagedorn TB + BL, 4. 2. Schmidt TB + BL … Tabak + Blättchen, TB + BL“, steht da in feiner Schrift. „Wir nehmen den Leuten den Alkohol weg. Das Rauchen können wir ihnen nicht auch abgewöhnen“, erklärt Liane Süßbrich, die Krankenschwester.

Im Übergangsheim, ein Stockwerk darüber, leben 23 Männer und eine Frau. Klassenunterschiede gibt es keine mehr. Professoren treffen auf Hilfsarbeiter, Ingenieure auf Wendeopfer. Alkoholmissbrauch macht die Leute gleich. Dennoch werden hier wieder Kontakte zu den Ämtern geknüpft. „Kaum allerdings sind die Leute gemeldet, treffen auch die offenen Rechnungen, die Mahnungen, die Gerichtspost ein“, sagt Jürgen Becker, der Sozialarbeiter. In der Einrichtung wird geklärt, wie es weitergehen kann. Gehen die Leute in ein Wohnprojekt oder eine eigene Wohnung, in Therapie oder zurück auf die Straße?

Bei der langen Nacht der Wohnungslosenhilfe muss man sich treiben lassen. Von einem Ort zum anderen. Wohin der Shuttlebus grad fährt. Von der Notübernachtung für Frauen in der Tieckstraße gab es eine Mitfahrgelegenheit nach Hohenschönhausen zur Kriseneinrichtung in der Manetstraße. Und nun geht es weiter zum Zoo. So entsteht ein Nomadengefühl.

In der Jebenstraße hinterm Bahnhof stehen die Mobile von Fixpunkt und der Treberhilfe. Die Streetworker selbst sammeln sich um eine Gulaschkanone unter offenem Zeltdach. Schneeregen und die sich in die Länge ziehende Nacht lassen jeden, der hier ankommt, frieren. Es gibt Chili con Carne ohne Fleisch. Egal. Hauptsache was Warmes.

„Drogenkonsummobil“ heißt eins der Autos, die hier stehen. Kokain- oder Heroinabhängige können sich darin einen Schuss setzen. Sie bekommen saubere Spritzen, und es wird ihnen geholfen, wenn was schief läuft. Leute aus dem Knast, Leute die eine Therapie abgebrochen haben, seien besonders gefährdet, sich Überdosen zu spritzen, erklärt Regina Mosden. Heroin wirkt atemdepressiv. Und zwar sofort. „Zuerst werden sie bleich, dann laufen sie blau an, dann fallen sie vom Stuhl.“ Mosden holt sie ins Leben zurück. Fünf Tage in der Woche steht das Drogenkonsummobil in der Jebenstraße. So 30 Leute kommen in den fünf Stunden, die sie offen haben. Der mobile Druckraum wird flankiert von einem zweiten Bus, der Präventionsarbeit macht.

Die Straßensozialarbeiter der Treberhilfe sind dagegen meistens zu Fuß unterwegs. Am Ostbahnhof, am Alex, am Zoo und der Kurfürstenstraße tauchen sie auf. Sie gehen zu den Punks, den Obdachlosen, zu denen auf dem Straßenstrich. Sie knüpfen Kontakte, tauschen gebrauchte Spritzen gegen ungebrauchte, klären, was sich klären lässt. „Es gibt so viele Problemlagen – Gesundheit, Kinderschutz, Illegalität, Haft, Gewalt, Drogen“, zählt Heike Sievers auf. Seit zehn Jahren reizt es sie, immer wieder von Neuem einen Weg zu finden, wo keiner mehr zu sein scheint. „Die meisten Menschen wollen nur ein glückliches Leben.“

Die erste lange „Nacht der Wohnungslosenhilfe“ baut Schwellenängste ab. Neugier ist erlaubt, Voyeurismus ist kein Tabu. „Das Elend der anderen kann schnell das eigene sein“, sagt ein Mann, als er sich im Shuttlebus durch die Nacht fahren lässt.