Bimsen in Minsk

Das Ende der Kuschelpädagogik: eine Schulklassenfahrt mit PrekAir ins Land der unbegrenzten Lernmethoden

Die Iljuschin IL 114 der PrekAir setzt mit ächzendem Fahrwerk auf dem Rollfeld von Minsk auf. Die 162 jugendlichen Passagiere klatschen erleichtert und lautstark in die Hände, haben sie doch einen 16-Stunden-Irrflug durch halb Europa hinter sich, weil der schlecht bezahlte Kapitän der Unterschichtfluglinie im Nebenberuf einen Ich-AG-Kurierdienst betreibt und schnell noch ein paar dringende Pakete in Malaga und Stockholm ausliefern musste, bevor er seine menschliche Fracht an der vorgesehenen Destination absetzen konnte.

Langweilig ist es den Jugendlichen in der drangvollen Enge der Kabine aber dennoch nicht geworden, denn ihr Betreuer Mathias Wittuschek „versüßte“ ihnen den langen Flug mit kniffligen Kopfrechenaufgaben. Nicht umsonst nennen sie die altertümliche Iljuschin der PrekAir liebevoll „Bimsbomber“. Und der hat auf seinen Shuttleflügen nach Osten stets unterprivilegierte Schüler aus allen Teilen Deutschlands an Bord. Das Ziel ihrer Reise: Minsk. In der weißrussischen Lernmetropole sollen die Angehörigen des abgehängten Prekariats mit Nachdruck an die faszinierende Welt des Wissens herangeführt werden.

Aber erst mal gilt es, selbst verantwortlich die richtige Bushaltestelle zu finden, um überhaupt an das Reiseziel zu gelangen. Keine leichte Aufgabe für Kevin und Silvio, denn die beiden 16-jährigen Magdeburger müssen hier die ersten Lernschritte ihres Lebens im Ausland bewältigen. Angesichts der in ihren Augen völlig abgedrehten kyrillischen Schriftzeichen verstehen die beiden vor dem maroden Flughafengebäude der weißrussischen Hauptstadt buchstäblich nur noch Bahnhof. Als sie schließlich nach einer halben Stunde den richtigen Busstopp ausgemacht haben, sehen sie leider nur noch die Rücklichter des gerade abfahrenden Busses.

Jetzt heißt es für die schon wieder abgehängten Mitglieder des Prekariats eine Stunde in Eiseskälte auf den nächsten Bus zu warten. Aber dafür haben sie eine Lektion fürs Leben gelernt: Ausreichende Fremdsprachenkenntnisse helfen im Ausland, den nächsten Bus zu bekommen.

Im Bus zum „Lerncamp Igor Lukaschenko“ hält der unermüdliche Betreuer Wittuschek den sichtlich erschöpften Jugendlichen einen Vortrag über ihr ungewöhnliches Reiseziel. Diente das weltabgeschiedene Barackenlager in der Weite der weißrussischen Einöde bis vor kurzem als Gulag für politische Häftlinge, hat es sich seit der umfassenden Demokratisierung des Landes und der Öffnung nach Westen zu einem Ort des Lernens, des Studiums und der Meditation gewandelt.

Am nächsten Morgen zeigt sich allerdings, dass diese Umwälzungen am Lagerpersonal offenbar spurlos vorübergegangen sind. Es ist sieben Uhr – wer jetzt nicht rechtzeitig zum Zählappell im Innenhof aus den Federn kommt, hat bei der weißrussischen Wachmannschaft schlechte Karten. Der Zuspätkömmling wird umgehend zum Putzdienst eingeteilt und darf erst mal die Latrinen schrubben.

Mit eiserner Hand werden hier die verweichlichten westlichen Jungs auf die Straße des Erfolgs geführt. Der harte Stil macht sich auch im weiteren Tagesablauf immer wieder bemerkbar. Gnadenloser Frontalunterricht, Fragen, die im Stil einer Stalinorgel auf die Schüler abgefeuert werden, die die Antwort im Chor aufsagen müssen. Und dann selbstverständlich auswendig lernen, bis die Synapsen glühen – in Minsk ist das ganze Repertoire längst versunken geglaubter Lernmethoden noch intakt.

Bimsen, Pauken, Büffeln – dieser steinzeitpädagogische Dreisatz hat hier in der unwirtlichen Weite Weißrusslands überwintert. Boris Blochin, Lagerverantwortlicher für die deutschen Schüler, bringt das pädagogische Konzept, nach dem das hiesige Lehrpersonal vorgeht, folgendermaßen auf den Punkt: „Was hier machen unsere Leute, nicht ist Kuschelpädagogik für Weichei aus Westen. Hier junge Leute dafür lernen alles, was wichtig in Leben. Ich immer sage: Wer es schafft in Minsk, der es schafft auf ganze Welt. Jetzt die junge Leute möchten verfluchen unsere kleine Institut, dafür später werden sehr, sehr dankbar sein.“

Die verweichlichten Lern-Loser aus der Bildungsferne Germaniens sehen das freilich alles ein wenig anders. Sie sehnen sich zurück in die gemütlichen Klassenzimmer ihrer Hauptschulen, Grundbildungslehrgänge und Berufsvorbereitungskurse und geloben ihrem Betreuer Mathias Wittuschek Besserung. Richtig froh sind sie allerdings erst, als sie wieder in ihrem Iljuschin-Bimsbomber der PrekAir sitzen, der sie rüttelnd und schüttelnd zurück in die Heimat bringt. RÜDIGER KIND