Das Tor im Blick, die Welt im Sinn

Schriften zu Zeitschriften: „11 Freunde“ bewähren sich als Ethnologen unserer Gegenwart und erschließen voller Emphase einen Kosmos

In der vergangenen Woche gab es wieder guten Grund, sich über Publikumszeitschriften und deren Macher den Kopf zu zerbrechen. Hatte man sich kürzlich über das aus leeren Gesten zusammengestoppelte Tempo-Remake gewundert, so geriet man angesichts des Starts von Vanity Fair vollends ins Grübeln. Das Echo fiel, abzüglich der üblichen Kollegenhäme, zu Recht vernichtend aus. Diesem Anfang wohnte so gar kein Zauber inne. Der Til- Schweiger-Titel besaß nicht einmal Trashqualitäten, sondern nur langweilige Normalität. Gewöhnlichkeit statt Glamour – wie konnte das passieren?

Es ist das alte Lied: Das Risiko großer Investitionen soll durch inhaltliche und ästhetische Wagnisvermeidung minimiert werden. Dankbar erwähnte Chefredakteur Ulf Poschardt die Millionensummen, die über hundert Arbeitsplätze schüfen: unerotische Meetingsprache ersetzte verführerische Blattmachervisionen. Als ob ihn der Erwartungsdruck lähmte, beschwor Poschardt zudem die „Erfolgsgeschichten“, die man liebe; für Erfolg müsse man hart arbeiten. Die Angestrengtheit solcher Binsenweisheit vertreibt Radikalität und Leidenschaft schon im Ansatz. Letztere sind aber unabdingbar für eine Zeitschrift.

Ein Redaktionspraktikum, wenige Kilometer weiter östlich im Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg, hätte helfen können. Seien wir unfair und nehmen wir das Unvergleichliche als Maßstab: Monat für Monat wird hier die Zeitschrift 11 Freunde produziert. Viele kennen die Legende von der mit Liebe gleichsam handgefertigten Fanzine, die Chefredakteur Philipp Köster einst persönlich den Fans in den Stadien schwitzend aufschwatzen musste. Heute wächst die Auflage des Magazins für Fußball-Kultur im fünfstelligen Bereich und ohne Identitätsverluste. Mehr noch: Auch Laien müssen konzedieren, dass das Team nicht bloß dem Rundleder hinterherjagt, sondern voller Emphase einen Kosmos erschließt. „Schaut her, so macht man ein Magazin“: Das demonstriert die weltmeisterliche 63. Ausgabe, deren Dieter-Hoeneß-Cover mit dem berühmten bluttriefenden Kopfverband jeden Til Schweiger deklassiert.

Elfmeter-Töter Daniel Klewer offenbart, an wen er in der Angst des Tormanns beim Elfmeter denkt („meine verstorbene Oma und meine kleine Tochter“); es gibt eine subtile Typologie des Naseschnaubens auf dem Spielfeld. Die von Sonntagszeitungen totgerittene Idee der Liste feiert eine sinnvolle Wiederauferstehung („Die 100 größten Spiele aller Zeiten“). Das umstrittene Fußballgenie Bernd Schuster wird in allen Facetten gewürdigt. Die drei lautstarken Fans von Teutonia Alveslohe haben ihren großen Auftritt, ebenso wie sieben Spielerfrauen, die in einem skurrilen Fotoshooting posieren („Er steht im Tor und ich dahinter“). Ein Leser bekennt, dass er die Rattelschneck-Cartoons nicht versteht und in der Nachrufrubrik „Schweigeminute“ wird Giovanni Montani vom AS Bari gedacht, der 18-jährig im apulischen Bandenkrieg mit drei Schüssen am Steuer seines Wagens niedergestreckt wurde.

Fußball existiert auch jenseits der Leipziger Krawalle vom Sonntag und deren italienischen Vorbildern. Davon kündet die 11-Freunde-Utopie, in der Romantik, Melancholie, Pathos und Humor, gepaart mit allerlei Neurosen, eine ebenso gläubige wie ironische Symbiose eingehen. Natürlich stellt sich die Neon-Florian-Illies-Frage: Werden die auch mit 70 noch so daherlabern? Das Problem der Generation Golf, die ins Unendliche verlängerte Adoleszenz, macht sich hier bemerkbar. Weil es jedoch stets um die Fußballsache geht, stört das kaum. Also kann man sich an den beigelegten Stadionpostern ergötzen (diesmal Volkspark Bamberg) oder epiphanische Momente beim Betrachten des doppelseitigen „Europaplatz“-Fotos erleben (diesmal Romtrans Oradea – Stinca Vadu Crisului 2:0, Rumänien, 8. November 2003). Hierbei umweht den Betrachter ein Hauch jener Ewigkeit, die womöglich nur noch gläubige Katholiken beim päpstlichen „urbi et orbi“ verspüren. Das Tor im Blick, die Welt im Sinn: Die von 11 Freunde praktizierte Ethnologie unserer Gesellschaft ist ein Lichtblick inmitten geistloser Kiosk-Ödnis.

ALEXANDER CAMMANN

11 Freunde. Magazin für Fußball-Kultur, Nr. 63, Februar 2007, 3,50 Euro, www.11freunde.de