: Brandenburgs neue Feinde
Bei Kleist ist einer um seiner Ehre willen bereit zu sterben. Das verstehen Schüler ganz gut DAS SCHLAGLOCH von KERSTIN DECKER
Berlinale-Zeit, alle reden über Filme. Sprechen wir übers Theater.
Ich gebe es zu, ich hatte sofort schlechte Laune, als ich im Foyer des Berliner Gorki-Theaters diese Schulklasse sah. Was wollen die denn im Theater?, dachte ich. Dachte es gewissermaßen schneller, als ich denken konnte. Das hatte ich zuletzt in der DDR erlebt, denn da mussten – die Kultur dem Volk! – nicht nur die Arbeiter, sondern auch die Schüler ins Theater gehen. Dafür gab es Abonnements und „Kulturaufträge“ aller Art. Für die, die freiwillig kamen, war es meistens furchtbar. Und nun Kleists „Prinz Friedrich von Homburg“ mit diesen Außerirdischen – vom Theaterinnenraum her betrachtet. Die waren höchstens dreizehn, wenn überhaupt. Unverkennbarer Neuköllnakzent. Hoffentlich nicht von der Rütli-Schule. Bestimmt waren die noch nie im Theater. Wahrscheinlich verstehen die nicht mal, was die auf der Bühne sagen. Kleist für Türken?
Plötzlich wurde mir klar, dass man an bestimmten Orten einfach nicht mit „Mitbürgern nichtdeutscher Herkunft“ rechnet, schon gar nicht gruppenweise, im ICE zum Beispiel oder im Theater. Natürlich war die Schulklasse laut, Kinder sind laut. Und dann fing es an zu regnen. Das lag an der Bühnenbildnerin Katrin Brack. Längst aufgefallen durch Ganz-Konfetti-Bühnen oder Vollwald-Echtwald-Bühnen, hat sie jetzt eben eine für den „Prinzen von Homburg“ eine Regenbühne gebaut.
Das ist Realismus. Immer mehr Menschen stehen im Regen, im Osten gar ganze Länder. Brandenburg zum Beispiel, bekannt durch Rechtsradikale, Kleist und Babymörderinnen. Regen war wirklich gut, sollte die Unruhe da oben vom Rang ruhig im Landregen untergehen. Und dann kam da dieser Lederjacken-Typ, das war der Prinz von Homburg, und brüllte „In Staub mit allen Feinden Brandenburgs!“. Nicht unbedingt ein Identifikationstyp, von Kreuzberg her gesehen. Aber das Wunder geschah. Stille auf dem Rang. Nur das Rauschen des Regens. Und das Kleist-Deutsch natürlich. Durch den unaufhörlichen Niederschlag war es noch schlechter zu verstehen als sonst, aber das schien diese minderjährigen Theaterfremdlinge nicht zu irritieren. Wer sagt, die Jungen von heute können nicht mehr stillsitzen?
Nur was hat sie so wunderbar stumm gemacht? Vielleicht haben sie in Kleists Parabelstück über den Idealismus, den Korpsgeist, die Disziplin und die Vergeblichkeit gar ein Stück der eigenen Welt wiedererkannt. Kleist ist ein bedenklich undemokratischer Autor, von der Kohlhaas’schen Rache noch gar nicht zu reden. Worum geht es wirklich in diesem Stück? Es geht um – die Ehre. Um den Stolz. Um all diese Dinge, die wir gewöhnlich als mentale Besitztümer der Vorgestrigen belächeln. Und vor denen wir manchmal so erschrecken, vor allem dann, wenn Väter und Brüder ihre Töchter und Schwester der eigenen Ehre zum Opfer bringen. Und Mütter wohl auch. Und doch reicht der Bedeutungshof dieses Begriffs von der äußerlichsten, mörderischsten Konvention direkt an unseren Lebensnerv, an die Frage eines jeden an sich, was er sich selbst schuldig ist.
Niemand hat das so gewusst wie der große Nichtdemokrat Kleist. Da gewinnt der Prinz von Homburg für den Großen Kurfürsten 1675 die Schlacht gegen die Schweden. Unter Friedrich Wilhelm (1640–1688) begann der Aufstieg Preußens, und den Prinzen gab es wirklich, und wirklich gewannen die Preußen nicht zuletzt aufgrund einer Befehlsvergessenheit des Prinzen die Schlacht. Es war gewissermaßen ein voreiliger, befehlswidriger Sieg. Der echte Kurfürst wusste genau, was das bedeutet. „Wenn ich Euch nach der Strenge der Kriegsgesetze verurteilte“, soll er gesagt haben, „hättet Ihr den Tod verdient.“ Aus dem Satz Friedrich Wilhelms hat Kleist sein Stück gemacht, den zweiten, bemerkenswert unpreußischen Satz des Kurfürsten hat er weggelassen: „Gott aber bewahre mich davor, dass ich den Glanz eines so glücklichen Tages verdunkle, indem ich das Blut eines Prinzen vergieße.“
Einen Lorbeerkranz hätte Homburg verstanden, das Todesurteil kann er nicht begreifen. Es versetzt ihn in Panik, bis der Quasi-Freispruch vom Kurfürsten kommt: „Wenn er den Spruch für ungerecht kann halten / Kassier ich die Artikel – er ist frei.“ Erst dieser Freispruch ist des Prinzen wirkliches Todesurteil. Er kann den Spruch nicht für ungerecht halten. Andere könnten ihn freisprechen, er selbst kann es nicht – bei Strafe des Selbstverlusts. Da ist einer um seiner Ehre willen bereit zu sterben. Dieser Akt der Selbstachtung hat die Schüler in ihren Bann geschlagen.
Selbstbehauptungsakte dieser Art sieht unsere moderne Welt nicht mehr vor. Die konsumistische Gesellschaft, die zugleich eine der All-Abhängigkeit ist, ruft dem Einzelnen nur zu: Verkaufe dich! Stolz ist der Stolz des Erfolgreichen. Die Ehre ist die Ehre dessen, der es geschafft hat. Aber was ist die Ehre eines Arbeitslosen? Und ist der Stolz eines Hartz-IV-Empfängers nicht lächerlich? Am besten, er bringt ihn gar nicht erst mit. Es gehört schon viel Kraft und Pragmatismus dazu, schon mit durchschnittlich ausgebildetem Selbstgefühl ein Arbeitsamt zu betreten.
Oscar Wilde hat in dem für einen Dandy sehr befremdlichen Essay „Die Seele des Menschen unter dem Sozialismus“ entgegen dem victorianischen Zeitgeist den undankbaren, unzufriedenen, rebellischen Armen gefordert. Denn aufgrund dieser Eigenschaften dürfe man ihm noch eine gewisse Persönlichkeit zusprechen. Der Snob Wilde sympathisiert mit dem Stolzpotenzial in jedem Menschen, mit seiner Empörungsfähigkeit.
Es genügt, das große Wort „Ehre“, das schon Kant für eine ganz und gar äußerliche, das heißt von außen an den Einzelnen herangetragene Bestimmung hielt, ein wenig nach unten zu übersetzen, die Synonyme zu beachten. Zuletzt ist die Ehre die Achtung des Einzelnen vor sich selbst. Die Bedeutungshöfe der Worte gehen ineinander über. Die jungen Kleistianer schienen das zu wissen. Dabei sah der Prinz auf der Bühne aus wie ihr personifiziertes Feindbild: Die Glatze und die schwarze Jacke waren keineswegs Zufall.
Der Regen hebt die Zeit auf. Er fällt noch immer auf Brandenburg, aber der Idealismus und der Korpsgeist und die Schlachten, die heute in Brandenburg geschlagen werden, sind andere. Sie werden nicht mehr von Prinzen geschlagen und auch nicht mehr gewonnen, höchstens gegen die Allerschwächsten. Regisseur Armin Petras schafft diesem Kleist den Assoziationsraum von heute. Denn bei Kleist scheint der Mond über Fehrbellin, und außerdem ist es sehr warm. Im „Gorki“-Regen aber ist der Mond natürlich weg, und es wird so kalt im Raum, dass die vorderen Reihen Wärmedecken bekommen haben. Das hier ist ein Hochpräzisionsresonanztest. Kleist schwebte, und dieses Schweben war großartig. Wenn junge Rechtsradikale ins Theater gingen, vielleicht wären sie ebenso still wie die Kreuzberger Parallelgesellschaftskinder. Sie haben ja ein ähnliches Problem, noch vor allen Ideologismen: ein Anerkennungsdefizit und eine Stolzneurose.
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