Totgeschwiegen

Ohne Knaller tiefes Schweigen: Die „Initiative Nachrichtenaufklärung“ hat ermittelt, welche Themen deutsche Medien 2006 vernachlässigten

VON MIRIAM BUNJES

1,4 Millionen Menschen in Deutschland sind von Medikamenten abhängig. Darüber wird immer wieder in Medien berichtet. Dass es für diese Menschen so gut wie keine geeigneten Therapieplätze gibt und sie stattdessen in den Alkoholentzug gesteckt werden – auch das ist kein Geheimnis: Im Suchtbericht 2006 der Bundesregierung wird das Versäumnis deutlich benannt. Nur in den Medien findet sich dazu nichts. Für die „Initiative Nachrichtenaufklärung“ (INA) sind „Fehlende Therapieplätze für Medikamentenabhängige“ deshalb das am meisten vernachlässigte Thema 2006.

Seit zehn Jahren stellt die INA, ein Verbund aus Wissenschaftlern und Journalisten, die Top 10 der Nachrichten und Themen, die in den Medien nicht genügend berücksichtigt wurden, zusammen. Dieses Jahr haben 60 Journalistikstudierende der Universitäten Dortmund und Bonn und der Fachhochschule Darmstadt insgesamt 160 Themen recherchiert. Eingereicht werden die Themen meistens von Betroffenen, prinzipiell kann jeder die INA auf möglicherweise verdrängte Nachrichten ansetzen. Über Relevanz und Vernachlässigung der Themen des Jahres 2006 entschied am Wochenende eine 15-köpfige Jury, die je zur Hälfte aus Wissenschaftlern und aus Journalisten wie „Monitor“-Chefin Sonia Mikich oder Günther Walraff besteht – damit „weder Journalisten noch Wissenschaftler betriebsblind entscheiden“, erklärt Horst Pöttker, Geschäftsführer der INA.

Er sieht in der Vernachlässigung der fehlenden Therapieplätze für Medikamentenabhängige ein Beispiel des Einflusses der Pharmaindustrie: „Die Pharmaindustrie hat ein finanzielles Interesse an der Sucht so vieler Menschen und ist gleichzeitig Anzeigenkunde vieler Medien.“ Zudem sei das Thema den meisten Journalisten nicht „knallig“ genug. „Es geht um einen Zustand, der seit Jahren vor sich hindümpelt“, sagt der Journalistikprofessor. „Daran sieht man zwei strukturelle Probleme: die Einflussnahme von außen und die Fixierung auf Ereignisse von Seiten der Journalisten.“

Schwer zu finden war das am meisten vernachlässigte Thema nicht, unter Betroffenen und Suchtexperten wird es seit Jahren diskutiert. „Schwierig zu recherchieren ist es auch nicht“, sagt Pöttker. „Es gibt nur immer weniger Journalisten, die Lust haben, abseits vom Medienmainstream zu recherchieren.“

Die Recherche des zweiten Topthemas „Über eine Million politische Gefangene in China – unmenschliche Bedingungen und Organhandel?“ fällt deutlich schwieriger aus: Für Nachforschungen dazu müssen Journalisten die chinesische Zensur überwinden – eine manchmal lebensgefährliche Hürde.

Die gibt es bei Top 3, dem „Stromfresser Internet“, nicht. Tatsächlich verbraucht das Internet allein in Deutschland so viel Strom, dass im Jahr 2010 dafür drei Atomkraftwerke laufen müssen. Aber: „Verbraucher machen keinen Druck für umweltfreundliche Rechenzentren, weil die Medien nicht über das Problem berichten“, sagt Pöttker.