Sehnsucht nach dem Orientalen

Ist der westliche Blick auf Islam und Orient durch Projektionen verstellt? Die beiden Kulturwissenschaftlerinnen Christina von Braun und Bettina Mathes wagen eine psychoanalytische Herleitung der aktuellen Debatten. Wie hilfreich ist ihre heute erscheinende Kulturgeschichte „Verschleierte Wirklichkeit. Die Frau, der Islam und der Westen“?

Die Frage ist nicht, warum der Orient sich so langsam entwickelt, sondern, warum der Westen es so schnell getan hat

VON HEIDE OESTREICH

Wenn eine Gesellschaft eine bestimmte Gruppe zum Problem erklärt und sie fortan nach Kräften verteufelt, ist etwas Misstrauen durchaus angebracht. Seit einiger Zeit sind die Muslime diese Gruppe. Fundamentalismus, Terrorismus, Zwangsheiraten, Ehrenmorde, Frauenunterdrückung werden ihnen auf die Rechnung gesetzt. Das Ergebnis: ein gigantisches Defizit. Die Kulturwissenschaftlerinnen Christina von Braun und Bettina Mathes wollen das Misstrauen gegen diese Arithmetik stärken.

Die Wahrnehmung des Orientalen durch den Westen funktioniere schon geraume Zeit nach einer unbewussten Struktur, meinen sie in ihrem neuen Buch „Verschleierte Wirklichkeit. Die Frau, der Islam und der Westen“. Es sei das abgespaltene Eigene, das hier im Anderen verfolgt werde, lautet ihre Generalthese, die in vielzähligen Variationen vor allem kulturhistorisch aufgefaltet wird.

Aufgefaltet, bis ein bauschiges Plissee entsteht, muss man dazu sagen, denn wie schon in anderen Werken von Brauns findet sich hier nichts weniger als eine Art Kulturweltgeschichte. Schriftsysteme, Glaubenssysteme, Geschlechterordnungen, die Historie des Schleiers, des Kreuzes, des Geldes und der Prostitution werden verhandelt – und das alles mal zwei, denn Orient und Okzident entwickeln sich anhand „unterschiedlicher Rationalitäten“, so die Autorinnen. Ziel ihrer kulturhistorischen Psychoanalyse: den Blick des Westens auf „die Orientalen“ entschleiern, indem das unbewusst Abgespaltene bewusst gemacht wird; das Andersartige des Orients dadurch unverstellt wahrnehmen; und damit auch seinen eigenständigen Entwicklungsweg akzeptieren, der neben dem Fundamentalismus auch emanzipatorische Experimente wie Feministinnen mit Kopftüchern hervorbringe.

Ein gewaltiges Unterfangen, dem teilweise schwer zu folgen ist, weil die Autorinnen eher bestimmte historische Komplexe hervorheben, bis eine Art Panorama entsteht, als dass sie einem Argumentationsweg folgen. Dem christlich geprägten Westen wird dabei in etwa folgende Verdrängungsstruktur attestiert: Bereits in der Kreuzessymbolik wird das Selbstopfer durch die anschließende Selbstermächtigung in der Auferstehung konterkariert. Das Leiden des Opfers wird in der Ikonografie der Pieta einem weiblichen Wesen zugerechnet, die Auferstehung dagegen immer in männlichen Metaphern beschrieben. Dass die Frau in der Kreuzessymbolik das Leiden zu tragen habe, werde in der Auseinandersetzung mit dem Islam auf den Schleier projiziert: Die Frau unter dem Schleier leidet. Bei Licht betrachtet, so meinen die Autorinnen, hat der Schleier aber im Orient ursprünglich eine Frau aus der Oberschicht gekennzeichnet. Die Nichtsichtbarkeit der Frau war ein Privileg. Und noch eine weitere Schleierprojektion finde statt: Symbolisierte der Schleier bei den Christen Jungfräulichkeit, so markierte er im Orient die Frau geradezu als sexuelles Wesen.

Wie kommt’s? Das Christentum assoziierte den Mensch gewordenen Gott, Jesus, als „Haupt“, die Gemeinde als „Glieder“. Dem entsprach eine Geschlechterordnung, die den Mann mit dem Geist, die Frau mit dem Körper korrelierte. Der Geist sollte den Körper beherrschen – der Mann damit die Frau.

Im Islam dagegen bleibt Gott gänzlich unsichtbar. Die Spaltung in Geist und Körper findet nicht statt. Stattdessen wird der Geist durch Rezitation immer wieder neu verkörpert. Der Körper wird nicht beherrscht, sondern eher durch religiöse Praktiken eingehegt. Die Sexualität etwa wird nicht verdammt, wie im Christentum, sondern reguliert: in der Geschlechtertrennung, im Schleier, in verschiedenen Formen der Ehe, die jederzeit wieder aufgelöst werden kann.

Diese Geschlechtertrennung nimmt der Westen als Unterdrückung der Frau wahr. Warum? Weil die Geschichte der Frauen im Westen eine der Unterdrückung ist. Sie wird verdrängt und auf die muslimische Frau projiziert.

Besonders an der Geschichte des Blicks wird die unterschiedliche Konzeption von Weiblichkeit laut den Autorinnen deutlich. Die Beherrschung der Natur im westlichen Fortschrittsdenken ist eine Geschichte des penetrierenden Blicks: Die Natur wird entblättert und entblößt und präsentiert sich so dem männlich gedachten wissenschaftlichen Blick (Frauen galten ja als zu abstraktem Denken unfähig).

Die Frau als Repräsentantin der „Natur“ wird entsprechend immer weiter entblößt, bis sie sich in den Sechzigern schließlich nackt präsentiert. Eine schöne Passage widmet sich der zeitgleichen Entwicklung von Atombombe und Bikini: Die totale und zerstörerische Beherrschung der Natur korreliert mit der totalen Sichtbarmachung der Frau.

So kommen die Autorinnen zu interessanten Umstellungen: Nicht warum der Orient sich so langsam entwickelt, sondern warum der Westen es so schnell getan hat, sei die Frage. Nicht, warum die Orientalin verschleiert, sondern warum die Frau im Westen so entblößt ist, sei zu erkunden. Und schließlich gehe es nicht nur um die Konzeptionierung von Weiblichkeit, sondern vor allem um die von Männlichkeit.

Inwiefern? Von Braun und Mathes unterstellen der gesamten Geschichte der Männlichkeit im Westen eine Art Kastrationskomplex, angefangen mit dem griechischen Alphabet, das die Körperlichkeit der Sprache abwerte. Das Schriftliche wird mit Männlichkeit assoziiert, das Mündliche mit Weiblichkeit, das Männliche wird damit vom Körper der Sprache getrennt, was als Kastration erlebt werde. Die Sehnsucht nach der stärker oralen Kultur des Orients (die arabische Konsonantenschrift verlangt nach Versprachlichung durch Vokalisierung) wird wie die Sehnsucht nach allem, was „der Frau“ zugeschrieben wird, verdrängt und abgewertet. Der Orient ist das abgespaltene Weibliche des Westens.

Solche Generalthesen haben den Nachteil, dass in ihrem Schatten kaum mehr etwas gedeiht. Die vielfältigen Arten von Emanzipation etwa. Da die Entblößung der Frau lediglich als männlicher Machtakt beschrieben wird, können die Autorinnen keinerlei utopischen oder anarchischen Selbstermächtigungsakt von Frauen darin erkennen. Dabei hat sich seit der Entblößung des Models Micheline Bernardini im Bikini in diesem Diskurs doch einiges getan. Aber auch der klassische Alice-Schwarzer-Feminismus findet keine Gnade. Feministinnen, die Kopftuchfrauen retten wollten, stehen hier im Verdacht, ihre eigenen Probleme mit der Emanzipation schlicht auf die Muslimin zu übertragen: „Wir stellen die Möglichkeit zur Diskussion, dass die physische Gewalt, der man die verschleierte Frau ausgesetzt glaubt, ein Ausdruck jener symbolischen Gewalt ist, der die entblößte Frau unterliegt.“

Dieser Blick kann die Wahrnehmung erhellend öffnen: Warum erregt sich alle Welt über den Ehrenmord – und kaum jemand über Eifersuchtsmorde? Dabei ist der einzige Unterschied doch, dass der Besitzanspruch einmal von der Familie, das andere Mal vom Ehemann exekutiert wird.

Andererseits besteht aber auch die Gefahr des Relativierens: Wer dem Orient eine „andere Rationalität“ zuspricht, läuft Gefahr, damit auch den menschenrechtlichen Maßstab aus der Hand zu legen. Zwar wollen die Autorinnen die Probleme, die Frauen in muslimischen Gesellschaften haben, erklärtermaßen nicht leugnen. Doch indem sie die „westliche“ Wahrnehmung dieser Probleme zur Projektion erklären, die lediglich auf den Westen zurückverweise, wenden sie die Aufmerksamkeit wieder weg von den Nöten muslimischer Frauen, die durchaus wahrgenommen werden müssen. Aber wenn ihr erweiterter Doppelblick dazu beiträgt, die schrille Selbstgewissheit aus der Islamdebatte zu nehmen, dann haben die Autorinnen ein gutes Werk getan.