Der DDR-Smurf

Aus der Chronik der verschollenen Leidenschaften: eine Jugend als Breakdancer in der DDR. Nico Raschick erzählt in seinem Film „Here We Come“ die Geschichte einer vergessenen Bewegung

VON JOCHEN SCHMIDT

Als ich neulich „Here We Come“ sah, die Dokumentation des Regisseurs Nico Raschick über Breakdance in der DDR, staunte ich, dass ich mit meiner jugendlichen Begeisterung für diese Kultur damals gar nicht so allein gewesen war. Es gab auch andere, die sich „Mike Magic Meyer“, „Reinhard Beatschmidt“ oder „Dyna Mike“ nannten. Alte Fotos und Super-8-Aufnahmen zeigten Jungs mit Schnurrbartflaum und Dauerwelle, die in selbst geschneiderten Puma-Trainingsanzügen mit über die Hosen gezogenen weißen Socken über Provinz-Boulevards smurften. Bis zur Wende waren Teile der Bewegung als „akrobatischer Showtanz“ von der FDJ assimiliert worden: Beim offiziellen Umzug zur 750-Jahr-Feier von Berlin liefen auch Breaker mit und winkten Honecker zu.

Ich weiß nicht mehr, wann ich zum ersten Mal einen Menschen gesehen habe, der sich wie ein Roboter bewegte, vielleicht hatte ich vorher noch nicht einmal einen Roboter gesehen, aber es war eine Offenbarung. Ein Körper, der sich wie eine Maschine bewegte, war vielleicht das perfekte Versteck für Gefühle. Ohne großen Aufwand konnte man sich auf der Schuldisko in einen Außerirdischen aus Amerika verwandeln. In „Ronnys Pop Show“ kam das Video zu Herbie Hancocks „Rock it“, diese Musik musste man nicht zweimal hören, um ihr zu verfallen. Alles Synthetische war faszinierend für uns, und „Rock it“ war vom Menschen befreite Musik.

Sich zu nehmen, was man hatte, und daraus etwas zu basteln, was man brauchte, dieses Prinzip war uns in der DDR bestens vertraut, nichts lag näher, als aus alten Märchen- oder Pionierliederplatten durch Scratchen richtige Musik zu machen. Je absurder die Vorlage, umso stärker der Effekt. Bei unseren Kassettenrekordern, die wir zur Jugendweihe bekommen hatten, gab es ein Loch über dem Auswurf, dort ließ sich die Motorgeschwindigkeit justieren, heute nennt man es pitchen. In der Apotheke gab es weiße OP-Handschuhe, einer Breakdance-Platte aus dem Intershop lagen sogar die originalen Handschuhe bei, ich fuhr einmal die Woche zum Palasthotel-Intershop, um sie zu bewundern. In ein paar alte, viel zu große Puma-Turnschuhe aus einem Westpaket wuchs ich hinein. Eine rote Schirmmütze, auf der „Elf“ stand, eine blaue Windjacke, und ich sah aus wie ein richtiger kleiner Roboter. Mein Trumpf waren blaue, wattierte Skihosen mit Gummizug im Bund, den ich bei allen Hosen einnähte.

Ich versuchte, mich vor dem Spiegel wie ein Roboter zu bewegen, nur so zu gucken, reichte nicht. Weil wir keinen Spiegel hatten, der groß genug war, musste ich mich vor dem Kinderzimmerschrank auf einen Stuhl stellen, aber dann fehlte der Kopf. Vor jeder Scheibe übte ich, wenn ich mich unbeobachtet fühlte, Electric Boogie und Moonwalk. Bei Wanderungen ließ ich mich zurückfallen und machte auf dem warmen Asphalt der Straße die Raupe. Leider hatte man kein Anschauungsmaterial, weil die Breaker, die hier und da im Westfernsehen gezeigt wurden, zu kurz zu sehen waren, um sich ihre Bewegungen zu merken. 1985 kam in der DDR der Dokumentarfilm „Beat Street“ raus. Weil Harry Belafonte, der den Film produziert hatte, als Freund des Sozialismus galt, konnte man die im Film zu sehenden New Yorker Kids als ausgebeutete Proletarier verbuchen. Man verließ das Kino wie ferngesteuert und wollte tanzen. Ich war schon stolz, dass ich den Film fünfmal gesehen hatte, aber in „Here we come“ sprechen manche von 60-mal.

Im Ferienlager 1984 waren für die Abschlussdisco die üblichen Vergnügungen vorgesehen. Ein Kamel aus Decken stieg über den Lagerleiter und pinkelte ihm ins Gesicht, der hässliche Bademeister wurde mit der hübschen Sanitäterin verheiratet. Aber mein Freund Kai und ich hatten eine Breakdance-Nummer zu „New York, New York“ von Grand Master Flash & The Furious Five einstudiert. Wir waren zwei Roboter, die sich gegenseitig anschalteten und mit möglichst zackigen, für das menschliche Auge nicht nachvollziehbaren Bewegungen den Raum erkundeten. Wir konnten beide ungefähr dasselbe, den anderen Kindern fehlte der Vergleich, und so wurden wir bejubelt. Ich schlängelte mich vorwärts, prallte hier und da gegen eine Scheibe und robbte wurmgleich über den Boden. Der Höhepunkt war mein aus dem Stand gesprungener Wurmschwung, von dem aus ich auf dem Bauch quer durch den Raum schnellte. Als ich sprang und mich mit den Händen abstützen wollte, rutschte ich wegen der glatten OP-Handschuhe weg und flog auf die Nase. Ich hatte das immer ohne geübt, um meine Handschuhe nicht schmutzig zu machen. Beim zweiten Mal klappte es, tosender Applaus war die Belohnung und die späte Einsicht der Mädchen, dass wir beide gar nicht so unattraktiv waren, wie wir aussahen.

Im nächsten Jahr überredeten uns die Leiter, wieder unsere Nummer aufzuführen. Aber nun hatten alle im Fernsehen das Original gesehen, es gab ja sogar eine „Breakdance“-Sendung im ZDF, in der acht staksige Typen in Jogginganzügen Breakdance als eine Art Gesundheitsgymnastik interpretierten. Ich hatte ein Jahr nicht geübt. Nach der Hälfte des Lieds war ich mit meinem Latein am Ende, tastete mich nur noch an imaginären Scheiben entlang und robbte verzweifelt durch den Raum. Ein Debakel. Jahre später fingen Deutsche an zu rappen, aber das war eben Jahre später. Wir waren zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen. Ich wechselte zum Pogo, der leichter zu lernen war, weil man dabei nur auf einem Bein hüpfen und den Kopf halten musste, als hätte man Wasser im Ohr.

www.herewecome.de