Zwischen Straßenstrich und Spielhaus

Die Historikerin Lotte van de Pol erzählt mit analytischem Scharfsinn von Alltag und Gefahren des „verbotenen Gewerbes“ im Amsterdam der Frühen Neuzeit

VON ANDREW JAMES JOHNSTON

Im Frühjahr 1739 erschütterte ein veritabler Sexskandal das Amsterdamer Publikum. Zwei führende Polizeibeamten – „Substitute“ – hatten jahrelang eine Art Erpressungsmaschinerie in Gang gehalten. Im Bunde mit weiblichen Prostituierten und Informanten hatten sie es darauf angelegt, verheiratete Bürger beim Besuch von Hurenhäusern auf frischer Tat zu ertappen.

Ehebruch war im kalvinistischen Amsterdam ein ebenso häufiges wie schlimmes Vergehen, das Ehrverlust und Gefängnis nach sich zog, doch konnte man sich gegen Zahlung einer bestimmten Summe halblegal der Verfolgung entziehen. Hier hatten die beiden Substitute ihre Chance ergriffen und überhöhte Tarife gefordert, die sie entweder nicht ordnungsgemäß oder gar nicht abführten, sondern mit ihren Komplizen teilten.

Dass es den Polizisten leicht fiel, die Freier in Angst und Schrecken zu versetzen, hatte mehrere Gründe. Das sogenannte Abkaufen der Strafe fand in einer rechtlichen Grauzone statt, und die Kontrolle der Gesetzeshüter war minimal. Als diese Machenschaften aufgedeckt wurden, kam es zu einer Serie von Festnahmen, Prozessen und Selbstmorden sowie dem Versuch, die Prostitution selbst mit aller Schärfe zu bekämpfen. Doch: Trotz alledem war nach einem Jahr alles wieder wie gehabt.

Diese und andere spannende Geschichten erzählt die holländische Historikerin Lotte van de Pol in ihrem neuen Buch „Der Bürger und die Hure: Das sündige Gewerbe im Amsterdam der Frühen Neuzeit“, das die Prostitution im Amsterdam des 17. und 18. Jahrhunderts in all ihren Facetten schildert. Geschlechtsverkehr für Geld war im damaligen Amsterdam ein wichtiger Wirtschaftszweig. Nicht nur die riesige Menge an Matrosen, auch die Einheimischen sowie die reichen Bauern der umliegenden Provinzen nutzten das vielfältige sexuelle Dienstleistungsangebot, das von den Edelbordellen der „Spielhäuser“ bis zum ganz normalen Straßenstrich reichte.

Tatsächlich galt die holländische Metropole als ein europäisches Zentrum der Prostitution, die Spielhäuser fehlten in keinem Reiseführer und zogen Touristen selbst aus den besten Kreisen an. Was es im kalvinistisch beherrschten Amsterdam allerdings nicht gab, waren Konkubinen, die auf großem Fuß lebten und einen gesellschaftlich anerkannten Status hatten. Paris, das Amsterdam den Ruf einer europäischen Prostitutionshauptstadt streitig machte, war auf diesem Gebiet überlegen.

Die in Amsterdam massenhafte Prostitution spielte sich in einer komplexen Halbwelt ab, deren wichtigste Eigenschaft die Armut war und zu deren typischen Begleiterscheinungen Geschlechtskrankheiten und Kleinkriminalität gehörten. Die Wende vom 17. Jahrhundert zum 18. brachte der Stadt zudem einen wirtschaftlichen Niedergang, der die Zahl der Prostituierten ansteigen und die Preise für geschäftsmäßigen Beischlaf sinken ließ. Die Huren stammten überwiegend aus der Unterschicht und hatten ihre Stellungen als Dienstmägde oder Textilarbeiterinnen verloren. Oft handelte es sich um Zugewanderte, die angaben, von einem Mann verführt und dann mit einem unehelichen Kind zurückgelassen worden zu sein.

Die Behörden bekämpften die Prostitution halbherzig, nicht zuletzt wegen des mittelalterlichen Grundsatzes, dass man ein kleineres Übel dulden müsse, um ein größeres zu verhindern. Noch im 18. Jahrhundert wurde dieses Argument verfochten, wenngleich in die Sprache der Aufklärung gekleidet: Bei so vielen Seeleuten in der Stadt müsse man die Huren billigen, um Massenvergewaltigungen von Bürgersfrauen zu verhindern. Auf frischer Tat ertappten oder mehrfach rückfälligen Huren drohte das Spinnhaus, eine Mischung aus Arbeitshaus und Frauengefängnis, wo man die Insassen zur eigenen Belustigung besichtigen konnte. Wie die Spielhäuser war auch das Spinnhaus ein beliebtes Ziel für Touristen und Einheimische.

Lotte van de Pol stützt sich in ihrer im Ganzen gelungenen Darstellung vornehmlich auf zeitgenössische Reise- und Sensationsliteratur und Gerichtsakten. So entsteht ein reiches Kaleidoskop von Beobachtungen über den Alltag der Prostitution, das die Autorin mit analytischem Scharfsinn und ohne Voyeurismus vor dem Leser ausbreitet. Zu den bemerkenswertesten Tatsachen, die das Buch aufdeckt, gehört vielleicht, dass die Prostitution im frühneuzeitlichen Amsterdam fest in der Hand von Frauen war. Männliche Zuhälter scheinen kaum eine Rolle gespielt zu haben. Daraus lässt sich jedoch nicht ableiten, dass es den Huren irgendwie besser ging.

Trotz oder gerade wegen seiner spröden Sachlichkeit ist das Buch faszinierend. Dennoch hat es einen gewissen Mangel: In ihrem deutlichen Bemühen, sich dem Gegenstand ohne Sensationslust zu nähern, verzichtet van de Pol ein wenig zu sehr auf die Möglichkeiten der thetischen Zuspitzung oder der narrativen Betonung. Am Ende hätte man schon gern ein Fazit gehabt, hätte man sich gewünscht, dass die Autorin ihre zahlreichen klugen Einzelanalysen in ein Gesamtbild eingeordnet hätte. Die entsprechenden Schlussfolgerungen müssen Leserinnen und Leser leider selbst ziehen. Dass es ihnen allerdings nicht allzu schwer fällt, ist entschieden Lotte van de Pols Verdienst.

Lotte van de Pol: „Der Bürger und die Hure. Das sündige Gewerbe im Amsterdam der Frühen Neuzeit“. Übersetzt von Rosemarie Still. Campus Verlag, Frankfurt am Main 2006, 263 Seiten, 29,90 Euro