Widerworte gegen autoritäre Erziehung

Erziehungswissenschaftler kritisieren die Thesen des ehemaligen Internatsdirektors Bernhard Bueb in einer Gegenschrift. Sie seien vordemokratisch. Bueb sieht Disziplinverfall bei Kindern und fordert mehr Autorität von Eltern und Lehrern

„Ein Verfall der Familie lässt sich nicht belegen“

AUS BERLIN ANNEGRET NILL

Es ist Nacht. Ein Mann läuft, den Blick auf den Boden gerichtet, in einem fort um eine Laterne. Warum er denn nur unter der Laterne suche, fragt ein Passant verwundert. „Weil hier Licht ist“, sagt der Mann.

Wie dieser Mann komme der Pädagoge und Buchautor Bernhard Bueb ihm vor, meinte der Erziehungswissenschaftler und Herausgeber Micha Brumlik bei der Vorstellung des Buchs „Vom Missbrauch der Disziplin. Antworten der Wissenschaft auf Bernhard Bueb“ gestern in der Akademie der Künste am Pariser Platz. Er habe denselben Tunnelblick.

„Lob der Disziplin“ heißt die Streitschrift, die Bernhard Bueb, ehemaliger Direktor des Eliteinternats Salem, im Herbst des vergangenen Jahres auf den Buchmarkt brachte – und die Furore machte. 400.000-mal verkaufte sich das Buch. Bild schenkte ihm eine Titelseite und ließ ihn seine Thesen in einer Serie von fünf Texten verbreiten. FAZ und Spiegel wälzten seine Thesen lang und breit aus.

Die etwas einfachen Thesen Buebs: Der Bildungsnotstand in Deutschland gehe zurück auf einen Erziehungsnotstand. An diesem seien die 68er Schuld, die mit ihrer liberalen, am Kind orientierten Erziehung auf ganzer Linie gescheitert seien. Deutsche Kinder bräuchten wieder mehr Disziplin, konsequente Bestrafung und Leistungsorientierung.

In „Vom Missbrauch der Disziplin“ schlagen Erziehungswissenschaftler und Psychologen nun zurück. Buebs Argumentation sei schlicht falsch, greift Brumlik den Exsalemer an. Der Bildungsnotstand habe nichts mit den 68ern oder liberaler Erziehung zu tun, aber sehr viel mit Armutsverwahrlosung und autoritären Familienstrukturen. „Wenn Bueb fordert, dass Autorität vorbehaltlos anerkannt werden soll, ist das vordemokratisch“, meint der ehemalige Direktor des Fritz-Bauer-Instituts zur Geschichte des Holocaust. Mangelnden Respekt vor Kindern und Lehrern wirft die Erziehungswissenschaftlerin Sabine Andresen Bueb vor. Sie rückt dagegen das einzelne Kind in den Blick, das individuelle Förderung braucht, und verschiebt den Fokus auf Eltern und Lehrer. Diese müssten sich täglich in einem Spannungsverhältnis zwischen individueller Förderung und Regelanpassung in der Gemeinschaft bewegen: „Eine Verfallsgeschichte der Familie, wie Bueb sie erzählt, lässt sich nicht belegen, im Gegenteil“, betont sie.

Hinter Buebs erzieherischen Rezepten verstecken sich in Wirklichkeit Hilflosigkeit, Frust und eine reaktionäre politische Agenda, sind sich die anwesenden Autoren einig. Wer versuche, Buebs vereinfachte Thesen in der Wirklichkeit anzuwenden, werde damit Schiffbruch erleiden, sind sie sich sicher. So stellen sie in ihrem Buch all die Bezüge her, die Bueb in seiner Streitschrift auslässt. Damit der Schlüssel zum Bildungsnotstand nicht ausschließlich unter einer einsamen Laterne gesucht wird.

Micha Brumlik (Hg.): „Vom Missbrauch der Disziplin. Antworten der Wissenschaft auf Bernhard Bueb.“ Beltz, Weinheim 2007