Freispruch für Belgrad

Enttäuschung in Sarajevo: Die Richter in Den Haag verurteilen Serbien nicht in Bausch und Bogen wegen Völkermords

AUS SARAJEVO ERICH RATHFELDER

So wenig Verkehr gab es um die Mittagszeit in Sarajevo schon lange nicht mehr. Die Menschen drängten sich in den Cafés vor den Fernsehapparaten. Das Urteil des Internationalen Gerichtshofes in Den Haag macht die Menschen nachdenklich. Dass das Gericht Serbien wegen Völkermordes freisprach, aber gleichzeitig das Massaker von Srebrenica (siehe Kasten) als Genozid bezeichnete, ruft verhaltene Reaktionen hervor. In einem Café im Stadtteil Ciglane sind sich viele einig. „Wir müssen das Urteil erst einmal genau studieren, bevor wir selbst ein endgültiges Urteil darüber abgeben,“ erklärt Mehmed Imamović, ein Rechtsanwalt. Die Enttäuschung ist ihm jedoch anzumerken.

Gerichtspräsidentin Rosalyn Higgins hatte bei der Urteilsverkündung in Den Haag in einer langen Analyse des Krieges auch die Verbrechen vor den im Juli 1995 begangenen Massakern in Srebrenica benannt. Sie sprach vom Aufbau von „Konzentrationslagern“ seit 1992 und nannte viele der Verbrechen beim Ortsnamen. Die serbische Regierung habe es nicht verhindert, dass solche Verbrechen verübt wurden. Die Regierung Milošević habe die bosnisch-serbischen Einheiten finanziell, logistisch und ideologisch unterstützt.

„Die Verbrechen in Srebrenica wurden mit der eindeutigen Absicht ausgeführt, die Bevölkerungsgruppe der Muslime in Bosnien-Herzegowina insgesamt zu zerstören, und deshalb liegt hier der Tatbestand des Völkermords vor“, erklärte Higgins. Entgegen internationalen Verpflichtungen seien die Schuldigen bis heute nicht ihrer gerechten Strafe zugeführt worden – insbesondere der damalige bosnisch-serbischen General Ratko Mladić. Doch auch wenn Serbien die Massaker nicht verhindert hat, ist es nicht verantwortlich für Srebrenica.

Die Übertragung ist zu Ende. Anschließend werden im Sarajevo-Fernsehen Stellungnahmen eingeholt. Auch von Serben aus Banja Luka, der Hauptstadt der serbischen Teilrepublik. Und die zeigen sich befriedigt über das Urteil. Serbien sei nicht schuldig, Konzentrationslager habe es auf allen Seiten gegeben, in Bosnien war Bürgerkrieg und jede Seite habe Verbrechen begangen, heißt es. Doch so leicht ist das Urteil nach Meinung des Mitgliedes der dreiköpfigen Präsidentschaft des Landes, des Muslimpolitikers Haris Silajdžić, nicht zu interpretieren. Erstmals in der Geschichte wurde ein Staat des Genozids angeklagt, allein dieser Umstand müsse die serbische Bevölkerung zum Nachdenken bringen, sagt er. Das Gericht habe bestätigt, dass es einen Genozid gegenüber bosnischen Muslimen gegeben habe. Deshalb müsse es endlich möglich sein, dass alle damals Vertriebenen in ihre Heimatorte zurückkehren könnten.

Andere Sprecher, wie das Akademiemitglied Mohammed Filipović, monieren, die internationale Gemeinschaft habe sich wie seit Kriegsbeginn gescheut, die Dinge beim wirklichen Namen zu nennen – um Serbien den Weg in die Europäische Union zu ebnen. Vielleicht sei jetzt eine Versöhnung möglich, erklärt ein Anrufer aus Mostar. Die Schuld Mladićs und der serbischen Truppen sei festgestellt, daran gebe es nichts mehr zu deuteln. „Wir müssen über alles reden, was mit der Vergangenheit zusammenhängt. Nur wenn die Wahrheit auf dem Tisch ist, kann diese Vergangenheit bewältigt werden.“

Endlich werden Bilder von der Demonstration der Frauen von Srebrenica in Den Haag gezeigt. 20 hatten sich am Freitag auf den Weg gemacht, um vor dem Gerichtsgebäude das Urteil abzuwarten. Aus vielen Teilen Europas seien Demonstranten gekommen, um sie zu unterstützen, berichtet der Reporter. Und das macht die hier versammelten Bosnier stolz. „Wir stehen doch nicht ganz allein.

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