Wildes Denken als schöne Tat

Schriften zu Zeitschriften: Die neu gegründete „Zeitschrift für Ideengeschichte“ widmet sich den Kopfgeburten vergangener Epochen und gibt sich erfreulich selbstironisch

Neue Einsichten gewinnt man nicht zuletzt beim Blick in die alten Bestände. Dieser Logik dient jedes Archiv in seiner alltäglichen Arbeit. Drei führende deutsche Forschungsbibliotheken und Archive wollen nunmehr aus diesem Geist gemeinsam nichtarchivarisches Kapital erwirtschaften. Das Deutsche Literaturarchiv Marbach, die Klassik Stiftung Weimar und die Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel haben dafür die Zeitschrift für Ideengeschichte konzipiert, die künftig viermal im Jahr erscheinen wird und in deren internationalem Beirat klangvolle Namen für originelle Forschung bürgen. Literatur-, Kultur-, Geschichts- und Sozialwissenschaften sollen hier einander befruchten. Die vielfältigen Risiken einer solchen hoffnungsvollen Neugründung liegen auf der Hand, zumal die Zeitschrift in die kleine Nische eines intellektuellen Publikums jenseits der Wissenschaftscommunity drängen will.

Der Themenschwerpunkt der ersten, angenehm gestalteten Ausgabe versucht es mit Selbstironie, unter der Überschrift „Alte Hüte“. Martin Bauer verfolgt beschreibend die Idee der „Entfremdung“ durch die Jahrhunderte. Helmut Lethen begibt sich noch einmal mit dem amerikanischen Literaturwissenschaftler Lionel Trilling (1905–1975) in die Welt des Untergrunddenkens, mit dessen Hilfe Authentizitätsfanatiker einst zur wahren Erkenntnis durchstoßen wollten. Andreas Urs Sommer kritisiert nach einem Parforceritt durch die abendländische Ideengeschichte die intellektuelle „Coolness“ als „wechselwarmes Sowohl-als-auch“ und plädiert stattdessen für eine „Haltung skeptischer Gelassenheit“ und „Vergleichgültigung der meisten Dinge“. Diesem Rat wird die Zeitschrift kaum folgen können, wenn sie das Schicksal unseres Denkens ergründen will. Denn wirkmächtige Ideen sind existenzielle Angelegenheiten, bei denen es allzu oft um Leben und Tod geht. Davon hätte man in diesem durchweg anregenden Heft gerne mehr gespürt. „Hut ab!“, so möchte man daher in doppeltem Wortsinne ausrufen. Mitherausgeber Ulrich Raulff meditiert immerhin über den ominösen Satz Aby Warburgs über das jüdische Dasein, in dem Passion und Pathos vieler Epochen nachhallen: „Wir sind zweitausend Jahre länger Patienten der Weltgeschichte gewesen.“

Leidenschaft ist Sache der Alten, auch in diesem Heft. Der Politikwissenschaftler Wilhelm Hennis, Jahrgang 1923, verkörpert in einem lesenswerten Geistergespräch für Eingeweihte noch einmal jene „Wildheit des Denkens“, die die französischen Modeautoren nur spielten: Die geistlosen Sozialwissenschaften seien durch eine noch geistlosere kulturalistische Richtung abgelöst worden. Adorno und Horkheimer wäre in Amerika nicht sehr viel Neues eingefallen; die Emigranten Franz Neumann und Otto Kirchheimer warnten Hennis schon 1952 vor der „Kritischen Theorie“: „Vorsicht, da steckt nichts dahinter.“ Adornos Stimme auf Hörbüchern bestärke ihn noch einmal darin, „völlig unempfänglich für diese Sirenentöne“ zu sein. Aber auch die „sogenannte friedliche Nutzung“ der Atomenergie ist vor Hennis’ – diesmal urgrüner – polemischer Sorge nicht sicher: Sie sei schlicht Hybris.

In der Rubrik „Archiv“ wird ein Text aus dem Nachlass des Philosophen Hans-Georg Gadamer (1900–2002) zutage gefördert, der nachdrücklich das gefährdete Schöne in der Kunst verteidigt. In seinem dialektischen Kommentar zu diesem Fundstück plädiert der 1928 geborene Philosoph Odo Marquard vehement für die bürgerliche Gesellschaft, weil nur in deren „oppositionshaltiger Welt“ zweierlei Ästhetik existieren könne: „Das Schöne ist nicht zu haben ohne das Nichtschöne.“ Deuten wir das Gadamer-Fragment aus den Tiefen des Archivs als geheime Programmatik dieser Zeitschrift; entdecken wir also auf deren Seiten ein „Verlangen nach Schönheit“ ohne den „Verdacht klassizistischer Blässe“, eine erfreuliche Gestalt annehmende Idee – „eine schöne Tat“.

ALEXANDER CAMMANN

„Zeitschrift für Ideengeschichte“, Heft 1/2007: „Alte Hüte“, 12 €, Verlag C. H. Beck, www.z-i-g.de