Witz im Ausnahmezustand

„Im Lubitsch-Emmentaler ist jedes Loch genial“. So lobte Truffaut das Kino der vielsagenden Auslassung von Ernst Lubitsch. Das Kino Babylon widmet dem Regisseur eine Retrospektive

VON JÖRG BECKER

Ein junger Schauspieler und talentierter Komiker, aufgewachsen an der Schönhauser Straße Nr. 183, wird 1911 von Max Reinhardt an das Deutsche Theater engagiert. Im „Hamlet“ spielt er den Totengräber und debütiert wenig später im Film. Kurz darauf inszeniert er bereits selbst für das Kino, nach eigenem Manuskript, „Fräulein Seifenschaum“ (1914). In derben Grotesken erzählt er von dem Milieu, dem er selbst entstammt, der Welt der jüdischen Kaufleute, der Konfektionäre. In einer Serie von Kurzfilmen schafft Ernst Lubitsch, auch als Akteur, eine prägende Figur: den gewitzten Lehrling Sally im „Schuhpalast Pinkus“ (1916) und „Rodelkavalier“ (1918). In jedem Fall ist Sally der „Stolz der Firma“, der sich frech in den Vordergrund drängelt, mit einem durch keine Pleite zu beeinträchtigenden Selbstbewusstsein ausgestattet. Lotte Eisner hat dieses markant dreiste Schau-Spielen „Jewish Slapstick“ genannt.

1918, im Jahr von Kapitulation und Revolution, kommt es zur künstlerischen Begegnung Lubitschs mit der Schauspielerin Pola Negri, die zum Markenzeichen seiner großen Filme im Kino der Inflationsjahre wird. Innerhalb von vier Jahren dreht Lubitsch elf Filme, arbeitet auf dem Ufa-Gelände in Tempelhof erstmals mit riesigem Statisten- und Kostümaufwand. Die Genres wechselt er schlafwandlerisch. Seine historischen Massenszenen konzentrieren sich, anders als der Monumentalfilm aus Italien inszeniert, auf Seele und Melodram. Er erprobt ballettgleiche Choreografien, etwa in „Die Austernprinzessin“ (1919), und exotisches Set Design in „Sumurun“ (1920). Dabei adaptiert er alte Bühnentricks, den Auftritt und Abgang mit Tür dazwischen für ein Kino, das gerade in dem, was er unsichtbar lässt und ausspart, die erotische Vorstellungskraft des Zuschauers in schönste Bewegung versetzt.

23 Stummfilme aus der Zeit dieses rasanten Anfangs und 17 spätere Tonfilme zeigt das Kino Babylon Berlin ab heute in dem Festival „Lubitsch aus Berlin“. Sprichwörtlich geworden ist ein Phänomen, das Lubitsch ins Kino mitgebracht und kultiviert hat, schon bevor er 1922 nach Hollywood wechselte: der „Lubitsch-Touch“. Ein Kino der vielsagenden Andeutungen, eleganter Auslassungen, scheinbarer Diskretion, das weit mehr zum Ausdruck kommen lässt, als man hätte sagen oder zeigen können. Berlinische Schlagfertigkeit prägt diesen „Touch“, ein Scharfblick für „unmögliche Situationen“ und menschliche Schwächen, doppelsinnige Bildeinstellungen und eine Vorliebe fürs historische Kostüm. Seltene Geistesblitze im Film, über die Billy Wilder – neben dessen Schreibtisch in großen Lettern gerahmt das Motto hing: „How would Lubitsch do it?“ – im Ton größter Ehrerbietung sprach. Manchmal gelinge es, sagte Wilder, ein paar Filmmeter herzustellen, die entfernt an den Meister erinnerten, aber nur: „like Lubitsch, not real Lubitsch“.

François Truffauts Wertschätzung war nicht minder groß; er notierte: „Die sagenhaften Drehbuchellipsen funktionieren nur, weil unser Lachen die Brücke von einer Szene zur anderen schlägt. Im Lubitsch-Emmentaler ist jedes Loch genial.“ Ironie, Pathos, stets eine Dosis Bitterkeit im schallenden Gelächter – Sarkasmen, die man eher spürt als sieht, Situationen, die veranschaulichen, dass auch Helden sich mindestens zweimal am Tag lächerlich machen: der König im Boudoir, mit herunterhängenden Hosenträgern, ein venezianischer Gondoliere, der romantische Lieder singt, obwohl er Müll transportiert. Gelegentliche Sentimentalitäten wusste Lubitsch im nächsten Moment „abzuschrecken“ wie ein Ei, damit es sich pellen lässt.

An Übertragungen auf die Verhältnisse seiner Zeit oder an kritischer Darstellung historischer Persönlichkeiten war Lubitsch wenig interessiert, eine Übertragbarkeit auf die Welt des Zuschauers war jedoch immer möglich. Der Film „Madame Dubarry“ (1919), der in den USA den antideutschen Importboykott durchbrach und sich bei Kritik und Kasse profilierte, zeigte das Schafott als Emblem der Französischen Revolution, erzählt aber, konfliktreich und melodramatisch, vom Aufstieg und Fall einer Kokotte des Königs: Ein unverfrorenes Bürgermädchen nutzt seine Karrierechancen im feudalen Patriarchat. Die Lubitsch-Farce um die eigennützige Politik einer erotischen Frau unter dem Ancien Régime untergräbt die überkommenen Geschlechterrollen.

Viele Lubitsch-Filme haben Stoffe der Operette verarbeitet zu einer Zeit, da diese als autonome Kunstform niederging. Er habe sie „entoperisiert“, erklärte Lubitsch später. Seine Filme steuerten gegen Realitäten, sie konterten die soziale Lage und das politische Klima. In der „Austernprinzessin“ wurde ausschweifig getafelt, als das Filmpublikum Kohldampf schob und als „Kohlhiesels Töchter“ in die Kinos kam (1920), die reine „Lachbombe“, befand sich Berlin durch Kapp-Putsch und Generalstreik im Ausnahmezustand. Kurz vor Weihnachten 1918 hatte in der Hauptstadt, am Rande des Bürgerkriegs, ein Lubitsch-Film größter Leidenschaft Premiere: „Carmen“.

Das Festival „Lubitsch aus Berlin“ beginnt heute im Babylon Berlin, bis 27. März. Programm unterwww.babylonberlin.de/lubitsch.htm