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: Der Südwind langte in dein Haar

Der poetische Realismus des Helmut Käutner: „Unter den Brücken“ aus dem Jahr 1945

Dieser Tage zeigt die Universität Harvard eine kleine Retrospektive mit Filmen des deutschen Regisseurs Helmut Käutner. Für den amerikanischen Filmkritiker Michael Atkinson eine Offenbarung: „Helmut Käutner ist als eloquenter Stilist des Erzählfilms mit seinen Zeitgenossen William Wyler, Frank Borzage, Michael Powell und Vincente Minelli in eine Reihe zu stellen. Vielleicht sogar – darf ich es aussprechen? – mit Ophüls und Rossellini. Vielleicht.“ Es scheint Zeit für die Neuentdeckung eines Regisseurs, der in Deutschland selbst natürlich nie ganz vergessen war. Viele seiner Filme, von „Große Freiheit Nr. 7“ (1944) bis „Die letzte Brücke“ (1954), sind bis heute im Filmgedächtnis präsent.

In der Filmgeschichtsschreibung jedoch ist Käutner zwischen den Stühlen gelandet. Zu stilbewusst zum einen, zu kompromissbereit zum anderen, erschien er auch und gerade mit seinen Nachkriegsfilmen lange als Regisseur, der zwar einerseits die allzu bereitwillige Anpassung an den Massengeschmack unterließ, andererseits aber selten nach künstlerischer Radikalität strebte. Unter den Nazis gelang Käutner freilich mancher Balanceakt. Er drehte im Dritten Reich Filme für die UFA, bei denen es ihm stets gelang, die Nazi-Ideologie zu vermeiden, wenn nicht zu unterlaufen. Er hatte mehr als einmal – auch mit dem Hans-Albers-Vehikel „Große Freiheit Nr. 7“, das in deutschen Kinos nicht gezeigt werden durfte – Ärger mit Propagandaminister Goebbels, konnte aber bis zuletzt Projekte durchsetzen, die seine eigene Handschrift trugen.

„Unter den Brücken“ hat er mit wenig Geld noch 1944 gedreht; der Film gelangte, obwohl er im März 1945 eine Freigabe bekam, nicht mehr ins Kino – und erlebte erst im Jahr 1950 einen regulären Kinostart. Er erzählt von Hendrik (Carl Raddatz) und Willi (Gustav Knuth), zwei Kahnschiffern, die im Schlepptau mit ihrem Kahn „Liese-Lotte“ auf der Havel unterwegs sind. Beim Halt in der Nacht sehen sie auf einer Brücke die junge Frau Anna (Hannelore Schroth), die Selbstmordabsichten zu hegen scheint. Die beiden sind kleine, gänzlich unheroische, nicht mehr ganz junge Männer, und ihre Weltläufigkeit beschränkt sich auf die Bekanntschaft mit den fließenden Gewässern Zentraleuropas. Eine Frau hätten sie gerne, aber einmal schon hatten sie es zuvor auf dieselbe abgesehen – und gaben es darum beide auf.

Mit Anna ist das anders, mit Anna wird es ernst. Sie holen sie von der Brücke, sie fährt mit ihnen auf dem Kahn hinein nach Berlin, wo sie, aus Schlesien in die Großstadt gekommen, in einem Hinterhof lebt, und zwar vom Kartoffelpufferbraten. Schmal ist der Spalt, durch den sie vom kleinen Balkon hinaus blickt auf die Großstadt. Viel größer die Häuserwand, auf der dick und rund Zigarettenwerbung prangt. Hendrik und Werner tun voreinander heimlich und tauchen, abwechselnd, in dieser kleinen Wohnung auf, unbeholfen um Liebe werbend. Hendrik spielt die Quetschkommode und singt das Seemannslied von „Muschemusch“: „Da sprach der Südwind / Muschemusch / Und langte in dein Haar. / Ein Dampfer brummte / Muschemusch / Und fuhr nach Zanzibar.“

Von Zanzibar aber wird in „Unter den Brücken“ nur geträumt. Die Welt des Films ist von einer der schrecklichen Wirklichkeit der Gegenwart – erzwungenermaßen – abgewandten, beinahe zeitlosen Privatheit. Die Musik, die Bernhard Eichhorn für die Einfahrt nach Berlin komponiert hat, ruft freilich sehr präzise die Atmosphäre der Zwanzigerjahre auf. Von „großer Freiheit“ aber keine Spur. Als Kontrast zu den engen Räumen unter Deck, der kleinen Wohnung im Hinterhof gibt es einzig die Aufnahmen von Flusslandschaften, die erst im Schlussbild zum Happy End einer gemeinsamen Fahrt in eine offene Zukunft gerinnen.

Makellos ist die Kameraarbeit, die den Film zu einer einzigen Etüde in Licht und Schatten macht, von den Bildern des Vorspanns, die in gewagten Schrägen himmelwärts die Fahrt unter Brücken zeigen, bis zur Szene einer großen Aussprache im Ruderboot. Nur in Teilen sichtbar ist zu Beginn Annas Gesicht, in den Schatten der Nacht gehüllt, aus dem in fast natürlich wirkender Künstlichkeit die beleuchteten Partien stechen. Man kann das auch „poetischen Realismus“ nennen. Und Helmut Käutner damit – darf ich es aussprechen? – durchaus auch neben Jean Renoir oder Marcel Carné stellen.

EKKEHARD KNÖRER

Die DVD ist für rund 18 Euro im Handel erhältlich