100 JAHRE MUTTERTAG – WARUM MAN IHN NICHT MEHR ABSCHAFFEN MUSS
: Ende des Opfermythos

Muttertag ist ein schrecklicher Tag. Er müffelt nach schlechtem Gewissen und unterdrückter Aggression. Denn irgendwie ist er unlösbar mit dem Hausfrauendasein der Mütter verbunden. Da wird einmal im Jahr eine Person geehrt, die den Rest des Jahres meist unterbezahlt für die ganze Bagage arbeitet. Die nicht selten ihren Schlaf, ihre Wünsche, ihre Berufsvorstellungen, ihr Leben Mann und Kindern gewidmet hat, früher sagte man gerne: „sich aufgeopfert“. Zwar hat sie es meist selbst so gewollt, aber dieses Tauschverhältnis hat eben keinen Tarifvertrag, es ist wild: Es reicht von der Mutter, die selbstverständlich die Familienfinanzen managt, bis zu der, die von ihrem Mann gerade mal ein „Taschengeld“ bekommt. Am Muttertag, der mal wieder ein bisschen wohlfeile Dankbarkeit und ein paar Blümchen statt des Rechts auf Geld und Freiheit serviert, bündelt sich dieses ungute Verhältnis.

Interessanterweise hat die Frau, die den Muttertag vor 100 Jahren in den USA durchsetzte, selbst die Falle bedauert, in die sie gelaufen war. Er sollte durchaus den Rechten der Mütter gewidmet sein und dem Andenken ihrer eigenen sozial hoch engagierten Mutter – wurde aber im Handumdrehen entpolitisiert. In Deutschland etwa war es der Verband der Blumenhändler, der den Muttertag populär machte. Ann Jarvis selbst versuchte sich juristisch zu wehren und plädierte später für die Abschaffung des Muttertags – vergeblich.

Nach hundert Jahren kann man etwas gnädiger auf diesen Tag schauen. Mütter lassen sich nicht mehr mit Blumen zum Schweigen bringen. Sie rechnen und rechten. Sie lassen sich scheiden, sie sind weiter berufstätig, sie wissen, dass es auch ihren Kindern besser tut, wenn sie ihnen ein Vorbild als selbstständige Person bieten. Sogar die „deutsche Mutter“, eine der altertümlichsten, die es überhaupt gibt, steht öffentlich zur Diskussion. An seinem hundertsten Geburtstag ist der Muttertag endlich politisch geworden. Deshalb brauchen wir den Muttertag nicht mehr abzuschaffen. Als schwiemeliger Kompensationstag für ausgebeutete Mütter hat er ausgedient. HEIDE OESTREICH