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Vom Fliehen und Forschen

Der Kunstraum Kreuzberg sucht schönste Berlin-Spaziergänge. Aus diesem Anlass: Ein Plädoyer für die Kunst eines Gehens, das kein Walking sein will

GANG GESUCHT

Vom 1. September bis 14. Oktober findet im Kunstraum Kreuzberg eine Ausstellung statt mit dem Titel „Walk! Spazierengehen als Kunstform – Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Gehen“. In diesem Zusammenhang sucht der Kunstraum Kreuzberg den schönsten Spaziergang in Berlin. Jeder kann bei diesem Wettbewerb mitmachen, der seinen liebsten bzw. schönsten Stadt-Spaziergang beschreiben und der Ausstellung zur Verfügung stellen möchte. Einzureichende Unterlagen: ein Text (nicht länger als 2 Seiten) und/oder ein Verlaufsplan und/oder Fotos und/oder ein Film (max. 5 Min. auf Mini-DV oder DVD). Einsendeschluss: 15. Juni (Kunstraum Kreuzberg/Bethanien, Mariannenplatz 2, 10997 Berlin). Die Wahl des schönsten Spaziergangs erfolgt durch eine Jury. Der Gewinner-Spaziergang wird im September gemeinsam gegangen und mit einem Honorar in Höhe von 150 Euro belohnt. Der 2. Preis ist ein MP3-Player, der 3. Preis ein Buchpaket zum Thema Spazierengehen. Ausgewählte eingesandte Spaziergänge werden in der Ausstellung und in einer Begleitzeitung vorgestellt.

VON HELMUT HÖGE

Die Kuratoren des Kunstraums Kreuzberg im Bethanien haben einen Wettbewerb ausgerufen: „Gesucht wird der liebste, der schönste Spaziergang dieser Stadt.“ Die Idee geht auf den Berliner Verleger Martin Schmitz zurück, der kürzlich einen Lehrauftrag für Spaziergangswissenschaft an der Uni Kassel bekam, wo schon der Basler Spaziergangsforscher Lucius Burckhardt seit 1987 „Promenadologie“ lehrte – ein Fach, für das er lange und leidenschaftlich warb.

Burckhardt starb im Sommer 2003. 1981 aber traf er sich mit mir, der ich gerade von einem langen Marsch zurückgekehrt war. Ich war von der Wesermarsch in die Toskana gegangen, wobei jedoch ein Pferd mein Gepäck getragen hatte. Zuvor, 1978, hatte ich auf dem Tunix-Kongress in Berlin ein Flugblatt verteilt, in dem ich davor warnte, das dort propagierte „Abhauen“ als bloße Metapher zu verwenden. Genau darüber wollte Burckhardt bei unserem Treffen mehr wissen: Wir sprachen über das Gehen als langsame Flucht- oder Absetzbewegung und über das dazu passende Schuhwerk.

Im Gegensatz zu dem Promenadologen ging es mir beim Gehen um das Reinfinden in verschiedene Landwirtschaften (Handarbeiten) und weniger um reine Spaziergangsforschung (Fuß- und Kopfarbeit). Aber Lucius Burckhardt hat mich damals sozusagen unheilbar infiziert: Seit 1981 bin auch ich ein überzeugter Geher – solange ich das Gefühl habe, jederzeit einfach weggehen zu können, bin ich einigermaßen zufrieden. Und um meine Beine und Füße dafür in Form zu halten, gehe ich fast täglich irgendwohin. Inzwischen ist mir schon fast jedes Bleiben ein bloßes Auf-der-Stelle-Treten.

Zu dieser Einstellung trug nicht zuletzt der polnische Schriftsteller Witold Gombrowicz bei, der einmal – in seinem Exil in Buenos Aires – auf einem Empfang Jorge Luis Borges’ traf und von dessen bourgeoisem Gerede so angewidert war, dass er sich zum Gehen entschloss – und auch tatsächlich ging. Über diesen seinen Weggang berichtete er später ausführlich, das heißt seitenlang, in seinem Buch „Trans-Atlantyk“. Gombrowiczs „Gehen“ unterscheidet sich gewaltig von Walter Benjamins „Flanieren“ und Lucius Burckhardts „Promenieren“. So weit noch meine Füße tragen, versuche ich nun, mich dazwischen auszubalancieren. In puncto Gehgeschwindigkeit und -gewissen aber steht mir Gombrowicz immer noch am nächsten.

Daneben ist der Weddinger Klavierstimmer Oskar Huth ein Vorbild. Kürzlich erschien im Merve-Verlag posthum sein „Überlebenslauf“, herausgegeben von seinem Malerfreund Alf Trenk. Der Begriff der Balance ist darin zentral. Insbesondere gilt dies für die „Nazizeit“ des Einzelgängers Huth, dem die Amerikaner 1946 die „Evidence of Anti-Nazi-Activities“ bescheinigten. Oskar Huth selbst sprach von einer „artistischen Balancemeierei – unvorstellbar!“ Und erklärte sie wie folgt: „Was mir dazu geholfen haben muß, durchzukommen, ist wohl, daß mich die Leute hinsichtlich meiner Nervenfestigkeit, meiner physischen Kraft und (wenn ich’s mal ein bißchen eitel sagen darf) auch, was die Sache eines gewissen Witzes angeht, unterschätzt haben …“ Später werden ihm die Nazis eine Stelle im Kultursenat antragen. Der selbsternannte „freischaffende Kunsttrinker“ zieht es jedoch vor, selbständig zu bleiben. Pro forma war dann als Zeichner im Botanischen Garten angestellt, 1941 tauchte er mit falschen Papieren unter. Am Breitenbachplatz betrieb er daraufhin im Keller eine Druckwerkstatt, in der er falsche Pässe und Lebensmittelkarten herstellte. Damit ermöglichte er fast sechzig Menschen, überwiegend Juden, das Überleben. Tagtäglich war Oskar Huth zu Fuß unterwegs, auf Buttertour zu den Untergetauchten. In den von Trenk notierten Gesprächsmitschriften spricht Huth von seinem täglichen „monsterhaften Latsch durch die Stadt“ – zeitweilig auch bewaffnet.

Solch hehre Gehziele haben kaum noch etwas mit „Peripathetik“ – dem klassischen Herumwandeln zwischen Olivenbäumen – zu tun. Aber auch der postmoderne Promenadologe würde nie mit Skistöcken bewaffnet ausgehen, wie sie die Nordic Walker im Grunewald in den Händen halten. Auch ein Walkman oder MP3-Player, wie die Jogger im Tiergarten oder in Prenzlauer Berg sie sich ins Ohr stöpseln, wären tabu. Wenn das schlichte Gehen heute zum „Walking“ aufgesportet wird, dient es nicht mehr dem wirklichen Aufbruch, sondern nur noch der Fitness. „Nur der Zigeuner weiß noch aufzubrechen, er macht daraus so etwas Einfaches wie Geborenwerden oder Sterben“, meinten Gilles Deleuze und Félix Guattari in ihrer „Nomadologie“.

Daneben gibt es – jedenfalls in Berlin – immer mehr Touristen, die das Gehen behindern, indem sie zu langsam schlendern und dabei noch nach oben kucken. Insbesondere gilt dies für die vielen spanischen Touristen. Dabei gehört Madrid eigentlich zu den Städten auf der Welt, wo man am schnellsten geht – zusammen mit Singapur, wo sich das Lauftempo in den vergangenen zehn Jahren um 30 Prozent beschleunigt hat“, wie Urbanisten meinen herausgefunden zu haben. New York und Tokio lägen dagegen nur im Mittelfeld, während sich die Gehgeschwindigkeit auch in Berlin ständig erhöhe: Als Grund werden die sinkenden Reallöhne im Verein mit den steigenden Lebenshaltungskosten hier erwähnt. Und das leuchtet auch ein: Man braucht bloß die Mieten um 20 Prozent zu erhöhen – schon muss jeder mehr verdienen und sich also schneller bewegen. Eine Freundin riet mir neulich schon zu einem Fahrrad. Aber das ist keine Lösung für Weggeher.

Inzwischen gibt es – ausgehend vielleicht von Peripathetikern wie Goethe und Johann Gottfried Seume, der 1802 einen „Spaziergang“ von Deutschland nach Sizilien unternahm – eine wachsende Zahl von Gehern, die nach ihren Gängen anschließend von ihnen berichten. Erwähnt seien der Journalist Wolfgang Büscher, der 2002 von Berlin nach Moskau ging, und der TV-Entertainer Hape Kerkeling, der eine Pilgerreise zu Fuß auf dem Jakobsweg unternahm. Es scheint, dass das Gehen heute drei unterschiedlichen Zwecken dienen kann: der psychischen bzw. der physischen Wellness, dem unerhörten Langstreckenrekord oder der mehr oder weniger durchgeplanten Promenadologie. Für Erstere wird immer mehr teures Equipment angeboten, für Letzteres stehen inzwischen schon Tausende von Guides bereit, die qualifizierte Spaziergänge offerieren – etwa in Tübingen und Heidelberg oder durch irgendwelche Mittelgebirge.

In Berlin machte sich die Künstlerin Ekaterina Beliaeva 2004 mit einer nächtlichen „Führung durch das russische Berlin“ mit Unterstützung des Arbeitsamts selbständig. Für solche oder ähnliche Spaziergänge gibt es inzwischen im Internet 25.700 Werbe-Einträge. Daneben machen sich auch immer mehr Stadtforscher zu Fuß auf – meist in Richtung „sozialer Brennpunkte“. Professor Rolf Lindner von der Humboldt-Universität veröffentlichte zuletzt ein Buch über die Geschichte dieser Art von Stadtforschung, die zunächst aus der Angst des Bürgertums vor den „gefährlichen Klassen“ in den Slums und Ghettos entstand. Lindners Werk trägt den von einer schwarzen US-Sängerin stammenden Titel: „Walk on the wild side“. Demnächst will er sich mit seinen Studenten gehend und Spontaninterviews führend drei heutige Soziotope im Vergleich vornehmen: die Karl-Marx-Straße (West), die Ackerstraße (Ost) und die Adalbertstraße (Ost und West).

Ich dagegen widme mich zusammen mit einer Stadtentwicklungsforscherin gerade der Kreuzberger Waldemarstraße. Während die autonome Szene dort inzwischen nahezu verschwunden ist, hat sich das türkische Leben in dieser Straße fest etabliert, wird aber nun akut von der Gentrification bedroht. Das Weichbild einer Stadt verschiebt sich ständig, aber wir Spaziergangsforscher bleiben ihr hartnäckig auf den Fersen – zu Fuß.

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