Freudentänze beim Betriebsunfall

„Das übertrifft sogar noch die WM“: Nach dem Meistertitel des VfB Stuttgart wird sommermärchenhaft gefeiert, während die Konkurrenz vom FC Bayern und Schalke 04 mit Visionen von einer rosigen Spielzeit 2007/08 gegen den Albdruck ankämpft

AUS STUTTGART JÜRGEN ROOS

Im Neuen Schloss zu Stuttgart machte sich am Samstagabend um kurz vor zehn Langeweile breit. Der Meister sollte empfangen werden, aber der Meister war nicht da. Steckengeblieben. Unterwegs im Autokorso.

Also vertrieben sich die fast tausend geladenen Gäste, darunter die komplette schwäbische Spätzle-Connection, die Zeit mit munteren Schätzspielen. Wie lange es wohl noch dauert, bis die VfB-Fußballer beim Empfang eintreffen? Wie viele Menschen sich da wohl auf und rund um den Schlossplatz tummeln? Hunderttausend? Hundertfünfzigtausend vielleicht? Zweihunderttausend sogar? Die wichtigsten Leute Baden-Württembergs, darunter Ministerpräsident Günter Oettinger (kann alles, außer Geschichte), Arbeitgeber-Präsident Dieter Hundt, Daimler-Boss Dieter Zetsche (Dr. Z)und EnBW-Chef Utz Claassen, hatten es also verdammt schwer in dieser dritten Halbzeit.

Immerhin: Den Menschenmassen draußen vor dem Schloss wurde es nicht langweilig. Weil die Fantastischen Vier auf der Bühne vor der Videoleinwand gratis ihren Rap aufführten. „VfB, VfB – olé, olé …“ kam erstaunlich oft vor in den Texten der Stuttgarter Kultband. Und „mfg“ schickten sie auch ein paar sprechgesungene Grüße hinauf zum FC Schalke, der die Meisterschale im vorletzten Spiel so dämlich verspielt hatte. „Sie ist weg!“, hieß das dann – und die Hunderttausend auf dem Schlossplatz nickten rhythmisch mit dem Kopf.

Die Welle der Champions

Später, es ging schon auf Mitternacht zu, hatten sich die Fußballer des VfB Stuttgart endlich durchgeschlagen und konnten den erregten Fans die Meisterschale präsentieren. Die Hände gingen zum Himmel, die Welle wurde gemacht und alle waren Champions – wie das halt so ist bei Fußballmeisterfeiern. Und dann war der Platz vor dem Schloss auch ziemlich schnell wieder leer. Der Tag war lang gewesen, und die letzte Straßenbahn fuhr schon um eins. Begonnen hatte dieser denkwürdige Fußballtag mit dem Anpfiff des Landshuter Schiedsrichters Wolfgang Stark. Das letzte Saisonspiel gegen Energie Cottbus musste die Elf von Trainer Armin Veh ja auch noch einigermaßen erfolgreich hinter sich bringen, bevor gefeiert werden durfte. Und diese finale Aufgabe war schwieriger als gedacht, es entwickelte sich sogar ein richtiger Krimi. Fast wie eine Woche zuvor, als der VfB mit einem grandios erkämpften Sieg in Bochum die Weichen auf Meisterschaft gestellt hatte.

Als Sergiu Radu die überraschende 1:0-Führung für die Cottbuser erzielt hatte (19.), war sogar für acht Minuten der mit 2:0 gegen Bielefeld führende FC Schalke 04 Meister. Dann aber kam der VfB zurück: Gegen den gewaltigen Volleyschuss von Nationalspieler Thomas Hitzlsperger (27.) hatte Cottbus-Keeper Tomislav Piplica ebenso wenig eine Chance wie gegen den Kopfball von Sami Khedira (63.), der zum 2:1-Sieg traf. Der Rest war ein rot-weißer Freudentaumel mit Weißbierdusche, Schalenübergabe und Konfettikanone. Beeindruckend war vielleicht noch, wie der Brustkorb des im Strafraum liegenden Torhüters Timo Hildebrand den Druck aushielt, als sich nach dem Schlusspfiff fast die komplette Mannschaft auf ihn warf. Es war Hildebrands letztes Spiel im Gottlieb-Daimler-Stadion – und er geht mit dem versprochenen Titel.

Wer kommt, wer geht?

Als Hildebrand über mögliche Titel spekuliert hatte, da war vor allem der Pokalsieg gemeint, den die Stuttgarter am nächsten Sonntag auch schaffen können. Spätestens dann wird sich die Frage stellen, was eigentlich noch kommen soll beim VfB. Oder gehen. Timo Hildebrand wird gehen. Zum FC Valencia, so wird spekuliert. Der Nürnberger Keeper Raphael Schäfer wird ihn ersetzen. Kommen soll Yildiray Bastürk von Hertha BSC Berlin, außerdem suchen die Stuttgarter noch einen Stürmer von europäischem Format. Allerdings: Die Spekulationen hatte der VfB-Manager Horst Heldt stets unkommentiert gelassen, „aus Respekt vor der Mannschaft, die da gerade um den Meistertitel spielt“. Die ist die jüngste der Liga (Durchschnittsalter 25,2 Jahre) und erfolgreich.

Der VfB ist zwar jugendlich-forsch aufgetreten, aber das allein wird in der kommenden Champions-League-Saison nicht reichen. Das weiß auch Heldt. 15 bis 20 Millionen wird die Königsklasse dem VfB, der übrigens einer der wenigen schuldenfreien Vereine der Liga ist, in die Kassen spülen. Das Geld wird Heldt mit einiger Sicherheit in neue Spieler investieren. Und dann wird Fußballdeutschland gespannt darauf schauen, ob der neue Meister es schafft, den Anschluss zu den großen Klubs der Branche zu schaffen. „Der Erfolg des VfB wird von vielen als eine Art Betriebsunfall der Liga gesehen, den es schleunigst zu beheben gilt“, schreibt die in Stuttgart erscheinende Sonntag Aktuell in ihrer letzten Ausgabe.

Wenn man die Äußerungen von Heldts Manager-Kollegen Uli Hoeneß (Bayern München) und Andreas Müller (FC Schalke 04) richtig deutet, dann spielen die Stuttgarter in den Überlegungen für die kommende Bundesliga-Saison schon jetzt keine Rolle mehr.