JÖRN KABISCH über DAS GERICHT
: Ich bin gerade am Kochen

Man könnte meinen, längere Öffnungszeiten machten eine gute Nachbarschaft überflüssig – ein tragischer Irrtum

Letzte Woche klingelte es abends. Vor der Tür stand eine Frau, die mir entfernt bekannt vorkam. Weil sie Hausschuhe trug und ein Geschirrtuch über die Schultern geworfen, klang es plausibel, dass sie die Nachbarin von zwei Stock tiefer war. So stellte sie sich jedenfalls vor. Und: Es sei ihr sehr peinlich, aber sie wollte fragen, sagte sie, ob sie sich etwas borgen könnte. Sie sei nämlich gerade am Kochen …

Ich antwortete nicht. Ehrlich gesagt war es mir in diesem Moment egal, ob es sich bei der Dame, etwas über 40, etwas korpulent und mit einem funktionellen Kurzhaarschnitt, tatsächlich um eine Nachbarin handelte. Vielleicht waren wir uns tatsächlich mal am Briefkasten begegnet. Ich fragte mich vielmehr, wann es wohl das letzte Mal passiert war, dass es an der Tür geschellt hatte, weil irgendwo im Haus ein Ei ausgegangen war, sich keine Nudeln mehr im Schrank fanden oder die Zuckerdose leer war. Ich konnte mich nicht erinnern. Klar, bei all den Geschäften hier ringsherum, die alle bis spätabends aufhaben. Längere Öffnungszeiten ersparen eben gute Nachbarschaft.

Jetzt erkannte auch die Frau, die sich als meine Nachbarin ausgab, dass der Mann, der sie so strahlend anlächelte, sie eigentlich vergessen hatte. Sie räusperte sich, und ich wurde ein bisschen rot.

„Wissen, ich bekomme gleich Besuch. Es soll Spargel geben, aber ich muss den Schäler verräumt haben. Ich habe schon bei den Leuten unter Ihnen geklingelt. Da war aber niemand. Ich habe es ein wenig eilig. Könnten Sie mir einen Schäler borgen?“

„Ich hoffe, ich habe den richtigen“, sagte ich, nun meinem Gefühl nach noch ein bisschen breiter strahlend, und bat sie herein. „Gibt’s es denn mehrere?“, fragte die Frau, die sich als meine Nachbarin ausgab, etwas verwirrt. Ich nickte und kramte in der Küchenschublade. Zum Vorschein kam ein Plastikschäler in Form einer Spargelstange, den ich mal von einer Tante bekommen habe, der mir aber schon immer zu stumpf war. Dann ein Sparschäler, den man frontal über das Gemüse ziehen muss. So wie einen Käsehobel. Er stammt von einem alten Mitbewohner, der damit prächtig umgehen konnte. Ich selbst habe mir vorgenommen, das Ding nur noch zu benutzen, falls ich mal eine Krankschreibung brauche – wegen Sehnenscheidenentzündung. Außerdem holte ich noch meine bevorzugten Geräte: ein unverwüstlicher Sparschäler, noch von meiner Mutter, den man wie ein Messer halten kann. Und mein Favorit für Spargel: Da ist die Klinge in eine Zange eingearbeitet. Funktioniert wie Butter. Und hinterlässt kaum holzige Stellen. Das alles erzählte ich in etwa auch so dieser wildfremden Frau, vielleicht noch ein bisschen ausschweifender.

Die sah mich verständnislos an. „Ich habe wirklich nicht viel Zeit.“ – „Dann nehmen Sie doch den, der ihrem vermissten Schäler am ähnlichsten ist.“ Sie griff nach dem Spargelstangenimitat und sagte: „Aber der, sagen Sie, ist der schlechteste.“

Ich erklärte, dass man das so nicht sagen kann. Jeder Mensch hat meiner Erfahrung nach ganz individuelle Schälgewohnheiten und seine bevorzugten Werkzeuge dafür. Siehe mein ehemaliger Mitbewohner mit seinem anormalen Handgelenk. Oder eine alte Freundin, die mit Schälern gar nichts anfangen kann. Egal ob Kartoffeln, Spargel, Karotten, sie benutzt ein Küchenmesser.

Aber die Frau konnte sich trotzdem nicht entscheiden. Also einigten wir uns darauf, dass sie alle vier Schäler mitnimmt und ausprobiert, welcher ihr am besten in der Hand liegt.

Ein schwerer Fehler. Das fiel mir erst auf, als ich vorgestern selbst Spargel machen wollte. Meine Schäler waren noch nicht wieder da. Und die Frau hatte sich mir nicht vorgestellt. Auf Verdacht klingelte ich zwei Stockwerke tiefer an allen Türen, doch die Frau, die sich als Nachbarin ausgegeben hatte, machte nie auf.

Schließlich ging ich zu den Nachbarn von nebenan. Wir haben uns schon öfters am Briefkasten gesehen. „Es ist mir ein bisschen peinlich, aber ich wollte fragen, können Sie mir etwas borgen? Ich bin nämlich gerade am Kochen …“

JÖRN KABISCH

DAS GERICHTHallo, Nachbar? kolumne@taz.de Morgen: Josef Winkler in der ZEITSCHLEIFE