Bahn frei

Heute eröffnet die Hochgeschwindigkeitsstrecke Frankfurt–Paris. ICE und TGV befördern Reisende wie im Fluge. Leider ist, was europäische Normalität sein sollte, eine Sensation

Ohne Entscheidung „von oben“ würde wohl noch immer über die Farbe der Löschgeräte gestritten

Europas Bahnen holen im Wettbewerb mit dem Flugzeug auf. Mit dem Start des Hochgeschwindigkeitsverkehrs von Frankfurt am Main und Stuttgart nach Paris im Juni wird sich die Bahnfahrt nahezu halbieren. Damit ist auch ein wichtiger Abschnitt der Magistrale Paris–München–Wien–Bratislava–Budapest fertiggestellt.

Bis dahin war es ein weiter Weg, denn die nationalen Befindlichkeiten sind gerade im Eisenbahnwesen groß. Über zehn Jahre hat es gedauert, bis dem deutschen ICE von französischer Seite die „technische“ Absolution erteilt wurde. Erst eine deutsch-französische Kabinettssitzung unter Leitung von Kanzler Schröder und Präsident Chirac brachte 2003 den Durchbruch. Dort wurde bestätigt, dass die Neubaustrecke TGV und ICE befahren sollen. Ohne diese Entscheidung „von oben“ würden sich die Unterhändler wahrscheinlich noch immer mit dem Kompromiss über die Farbe der Löschgeräte oder der Größe der Windschutzscheibe beschäftigen.

Doch nationale Befindlichkeiten im Zugverkehr sind kein französisches Spezifikum. Der Modernisierung der 137 Kilometer langen Bahnstrecke von Berlin nach Stettin ging ein jahrelanges Gezerre über die Frage voraus, ob die Stromspannung an der Grenze oder im Stettiner Bahnhof verändert wird. Denn die 14 Kilometer auf polnischer Seite können nur Züge von und nach Deutschland befahren. Trotzdem wurde in Polen argumentiert: „Jetzt holen sich die Deutschen das über die EU zurück, was sie im Zweiten Weltkrieg verloren haben.“ Bis heute war es nicht möglich, die technisch sinnvolle Lösung zu realisieren, dass nämlich im Bahnhof von Stettin und nicht an der Grenze die Stromspannung der Züge verändert wird. Hier fehlt das Machtwort „von oben“, das die derzeitige polnische Regierung allerdings nicht geben will.

All diesen Schwierigkeiten zum Trotz wächst Europas Schienennetz zusammen. Wer ab Juni im Frankfurter Hauptbahnhof in den ICE steigt, fährt vier Stunden und elf Minuten später in den Pariser Bahnhof Gare de l’Est ein, ab dem Fahrplanwechsel im Dezember geht es sogar noch eine knappe halbe Stunde schneller – sowohl mit dem TGV nach Stuttgart als auch mit dem ICE nach Frankfurt am Main. Auf beiden Strecken ist damit das Zeitalter des gemächlichen EuroCity vorbei, der mehr als sechs Stunden für die Reise von der Ile de France in die Schwaben- bzw. Bankenmetropole benötigte.

Das wird möglich durch die Fertigstellung des französischen Hochgeschwindigkeitsabschnittes zwischen Paris und Baudrecourt in Lothringen. Nach fünf Jahren Bauzeit erlaubt die Neubaustrecke eine Höchstgeschwindigkeit von 320 km/h, die sowohl die neue, extra für die Strecke bestellte Serie von TGV-Zügen sowie der ICE 3 erreichen. Dies ist, neben den besseren Fahrtzeiten, das Novum im deutsch-französischen Hochgeschwindigkeitsverkehr: Erstmals fahren die Flagschiffe der französischen Bahn SNCF und der Deutschen Bahn AG weit ins andere Land hinein.

Sowohl für den technischen Ablauf als auch für die Fahrgäste bedeutet dies ein Aufeinandertreffen unterschiedlicher „Bahn-Kulturen“. Während die Franzosen auch in Deutschland mit festem Platzreservierungssystem arbeiten, wird im ICE lediglich auf dem französischen Streckenteil eine Reservierung vorausgesetzt. Und während der Hochgeschwindigkeitszug Frankreich möglichst ohne Halt durchquert, können an deutschen Bahnhöfen die Fahrgäste öfter ein- und aussteigen. Erfreulich ist, dass die BahnCard bis Paris gilt und die französische „Carte Escapade“ im deutschen Netz Ermäßigungen ermöglicht. Beim Thalys, dem vor zehn Jahren gestarteten ersten europäischen Schnellzugprojekt zwischen Deutschland und Belgien, funktioniert das noch immer nicht.

Michael Cramer ist seit 2004 Sprecher der Grünen-Fraktion im Verkehrsausschuss des Europäischen Parlaments. Davor saß er für die Grünen im Berliner Abgeordnetenhaus und war ihr verkehrspolitischer Sprecher.

Mit dem Einführungspreis von 29 Euro von Frankfurt nach Paris beweist die Deutsche Bahn zudem, dass sie zeitlich und preislich mit den Billigfliegern mithalten kann. Die Air France rechnet damit, durch die Hochgeschwindigkeits-Konkurrenz eine halbe Million Fluggäste zu verlieren. Und mit den Einnahmen einer europaweiten Kerosinsteuer – 14 Milliarden Euro pro Jahr kämen zusammen – könnte die Bahn noch weiter in die Offensive gelangen, wenn das Geld in die notwendige schnelle Modernisierung der Schienenwege investiert würde. Es ist zu erwarten, dass der Anteil der Bahnen weiter wächst: Nach dem Start von Hochgeschwindigkeitszügen wird der Flugverkehr in der Regel entweder ganz eingestellt oder erheblich reduziert, so geschehen zwischen Berlin und Hamburg oder Brüssel und Paris.

Mit der schnellen Schienenverbindung zwischen Deutschland und Frankreich wird auch ein neues technologisches Zeitalter eingeläutet. Denn mit dem europaweit einheitlichen „European Rail Traffic Management System“ werden in Zukunft die heute noch bestehenden mehr als 20 unterschiedlichen Zugsicherungs- und Signalsysteme abgelöst. Statt durch Signalmasten werden die Züge künftig über Funksignale gelenkt. Das ist nicht nur kostengünstiger bei Bau und Unterhaltung, sondern erhöht auch die Sicherheit. Zudem wird die Kapazität erhöht, wodurch Engpässe in den Knoten und Flaschenhälsen ohne kostenaufwändige Neubauten beseitigt werden können. Der Vorteil der langen Strecken, insbesondere im Güterverkehr, kann dann auch in Europa herausgefahren werden. In der EU werden nämlich gerade mal 14 Prozent der Güter auf der Schiene transportiert, während der Anteil im Highway-Land USA bei mehr als 40 Prozent liegt. Den Anteil wesentlich zu steigern, ist im heutigen technischen und politischen Flickenteppich kaum möglich.

Zwischen Deutschland und Frankreich rechnen die Bahnen bis 2012 mit einem Fahrgastzuwachs um 50 Prozent. Es wird auch noch weitere Verbesserungen geben, denn die Verbindung Paris–Stuttgart ist Teil der transeuropäischen Magistrale von Paris über München, Wien und Bratislava nach Budapest. Gerade in der österreichischen Hauptstadt sind die Arbeiten für die Durchbindung im vollen Gange, mit drei Prozent maßvoll durch die EU gefördert.

Andere Abschnitte stocken, weil den Planungen das vernünftige Maß und somit die Chance auf eine Finanzierung fehlt. So ist zum Beispiel der auf 2,8 Milliarden Euro veranschlagte Umbau des Stuttgarter Bahnhofs ein Bremsklotz, der auch die notwendige Verbindung nach Ulm verzögert. Nach Vorstellung des Landes Baden-Württemberg soll die EU 10 Prozent übernehmen. Nach den Kürzungen des europäischen Verkehrshaushalts auf ein Drittel, die gerade auch Deutschland durchgesetzt hat, ist eine solche Summe Traumtänzerei.

Andere Abschnitte stocken, weil den Planungen das vernünftige Maß fehlt

Der europäische Bahnverkehr hat eine reelle Chance, auf dem Markt gegen Straße und Luftverkehr zu bestehen: Wenn es Brüssel gelingt, nationale Interessen auszugleichen und nationale Eitelkeiten einzuebnen. Die heutige Eröffnungsfahrt zwischen Frankfurt und Paris ist dafür ein ermutigendes Zeichen.

MICHAEL CRAMER