Sie will, er will

Italien sehen – und glauben! Hofft mancher Ungläubige. Doch so einfach macht es einem das Mutterland des Katholizismus nicht

VON LOTTE EVERTS

Bologna, 8. Dezember. Verdammt laut ist es hier. Kinder laufen zwischen den Bankreihen herum, kleine Jungs im Sonntagsanzug mit Spielzeugautos in der Hand, die sie über die geputzten Schuhe der Erwachsenen fahren lassen, bis irgendjemand sie zurechtweist. Die Mädchen stehen unruhig, aber zahmer neben ihren Vätern und recken sehnsüchtig die Hälse nach ihren umherflitzenden Brüdern. Studenten stehen zwischen mühsam knienden Alten, Leute rufen sich über die Reihen hinweg beim Namen und bestellen Grüße an die Zuhausegebliebenen.

Eigentlich fehlen heute wenige aus der Gemeinde der Franziskanerkirche. Italien feiert Mariä Empfängnis, einen Feiertag, den der ungläubige, aber passionierte Glaubenstourist auf keinen Fall verpassen will. Hier hofft er, inbrünstige Hingabe, tiefste Introspektion und ein paar opulente Triumphe über die protestantische Bilderarmut hautnah erleben zu dürfen. Vielleicht würde es eine Art Kirchenspiel geben, eine szenische Darstellung von Marias vermeintlichen Erzeugern mit dem verkündenden Engel. Schließlich werden auch an Ostern sterbensecht zurechtgemachte Wachspuppen farbtropfend durch die Ortschaften getragen. Und trifft man bei Ausflügen zur Pilgerkirche vor den Toren Bolognas regelmäßig Jogger, die kleine Passionskreuze sehr authentisch schwitzend den Berg hinauftragen, um sie, oben angekommen, vor den Altar zu legen. Imitatio Christi wird in Italien nun einmal sehr wörtlich genommen.

Die Menschen in den vollbesetzten Bänken wirken beim Hereinkommen wie ein wirrer Flickenteppich, der zur Feier des Tages über den steinernen Boden des Gotteshauses gelegt wurde. Die ist als Klosterkirche der Franziskaner sonst sehr nüchtern gehalten. Die Innenwände sind nacktes gotisches Mauerwerk und die Bänke in den hohen Schiffen niedrig und funktional. Vor allem sind es viele, in der Kirche des Bettelordens müssen sie seit je eine riesige Glaubensgemeinschaft fassen können, von der möglichst niemand ausgeschlossen bleiben darf. Die geeigneten Bauten hierfür sind nicht prunkvoll, sondern groß. Und weil ihr Grundriss eben Hunderte fasst, mussten die Wände umso höher gebaut werden, damit sich beim Gläubigen auch verlässlich der Eindruck einstellt, ganz unten im Staube zu kriechen, während die Sphäre des Herrn unerreichbar hoch über ihm liegt – dort, wo der Giebel des Mittelschiffs den Himmel berührt.

Wie lose Fäden winden sich heute die Schlangen vor den beiden Beichtstühlen aus der Eingangstür hinaus bis auf den Vorhof der Kirche. Vor der Beichte wird sich noch ein wenig beim Tratschen versündigt, während die Predigt bereits in vollem Gange ist.

Leider gibt es heute aber kein Schauspiel, stattdessen geht es gerade um Fakten: Der Pfarrer hat sich nach wenigen Minuten Predigt in Rage geredet, er zeigt auf eine junge Studentin und ruft ihr zu, auch sie dürfe sich der unbefleckten Empfängnis fähig wähnen, solle sich nicht zum Zweifel verführen lassen, die heiligen Jungfrauen zu leugnen – was Anna und Maria über uns Kleingläubige erhebe, sei allein die Festigkeit ihrer Überzeugung gewesen, dem Engel glauben zu dürfen, was er ihnen mitteilte. Am Misstrauen, das heute der Realität der Jungfräulichkeit der Jungfrauen entgegengebracht werde, sei der wahre Abgrund auszumachen zwischen dem, was Christsein einmal bedeutet habe, und dem rapiden Abfall vom Glauben in der Gegenwart.

Die von der Kanzel herunter angesprochene Studentin ist rot geworden und greift nach der Hand ihres Freundes. Wahrscheinlich besteht ein ebenso großer Abgrund zwischen den Forderungen des Pfarrers und ihren Möglichkeiten, es Maria noch gleichzutun, aber das scheint den Beteiligten nicht wichtig zu sein.

Ich muss an meine Großmutter denken, die frömmste Katholikin, die ich kannte. Als Kind stritt ich einmal mit ihr über die Auferstehung Jesu, von der sie mir anlässlich eines Osterbesuchs berichtete, schockiert über meine völlige Unkenntnis der Geschichte. Das geht nicht, versuchte ich ihr zu erklären, wer tot ist, kann nicht mehr gehen und sprechen. Seit ich damals eine alte Frau auslachte, weil sie noch an Märchen glaubte, galt mir Religiosität als etwas Trotziges. Später als eine Möglichkeit der kompromisslosen inneren Überzeugung, nach der ich eine gewisse Sehnsucht hatte. Neugierig auf die Vereinbarkeit des Alltags mit so etwas wie Gewissheit, komme ich nun endlich ins katholische Italien – und begreife es immer noch nicht.

Sonst wirkt in dieser Kirche niemand, als befinde er sich mit dem gepredigten Wunderglauben im Konflikt. Im Gegenteil, je leidenschaftlicher der Pastor die einzelnen Gläubigen anspricht und ermahnt, desto besser wird die Stimmung.

Vielleicht macht Glauben umso mehr Spaß, je abgefahrener der Glaubenssatz ist. Es mag auch leichter sein, die Dinge zu glauben, die mit der launischen Wirklichkeit am wenigsten zu tun haben. Und vielleicht stimmt auch die Aussicht, bei absolut gefestigter Überzeugung selbst ohne Sünde empfangen zu können, die Gemeinde derart euphorisch. Das nun folgende Lied ist jedenfalls eine wahre Fanfare der Lobpreisung. Und dem staunenden Glaubenstouristen wird klar, er verpasst als Heide nicht nur eine besondere Übung des Insichgehens oder einen konkreten Maßstab für Recht und Unrecht des eigenen Handelns, sondern so etwas wie … Fun!

Rom, Anfang Juni. Frühmorgens haste ich eilig den Avertin hinauf, es ist noch kaum jemand unterwegs, aber auf dem Kirchplatz vor Santa Sabina, einer der ältesten Kirchen Roms, steht schon Carina und wartet ungeduldig. Ich schwitze, als ich ankomme. Wasch dir die Hände, sagt sie und lässt sich meinen Ausweis geben, schickt mich noch schnell zum Bäcker, weil sie keinen Kuchen mehr besorgen konnte. Das Brautpaar kommt in fünf Minuten, ruft sie mir hinterher.

Als ich zurückkomme, tritt die erste Hochzeitsgesellschaft aus der Kirchentür, kurze, bunte Kleidchen, hohe Absätze, der kleine, dicke Bräutigam trägt eine Sonnenbrille und will sie auch für das erste Foto nicht abnehmen. Im Park wird das obligate Hochzeitsvideo gedreht, der Kameramann lässt das Paar romantische Szenen aufführen, bei denen der Bräutigam die versunken wandelnde Braut von hinten überrascht, sodann alle Melancholie von ihr abfällt und sich beide in die Arme sinken. „Lassen Sie sich richtig fallen, gut, und das Bein ein bisschen anheben!“ Eine Flasche Sekt wird geköpft, die Automotoren werden angeworfen, und schon sind sie weg.

Das muss so schnell gehen, denn eben kommt mein Brautpaar an und klettert aus dem Taxi, gefolgt von zwei Kindern. Carina mustert die beiden und flüstert mir zu, jetzt könnten die das Heiraten auch ganz lassen, dann geht sie aber lächelnd auf die Eltern der unehelichen Geschwister zu und nennt ihren Namen. Das hier ist Ihre Trauzeugin, sie kann Deutsch, lernen Sie sich doch kurz ein bisschen kennen, bis drinnen alles aufgeräumt ist.

Dann ist sie weg, und wir stehen etwas verlegen voreinander. Eine Hochzeitsgesellschaft gibt es nicht, die vier sind nur für zwei Tage in Rom, extra zum Heiraten. Normalerweise finden diese kleinen Hochzeiten im Complesso Vignola Mattei statt, einer entweihten Kirche, in der man nur standesamtlich heiraten kann, aber diese zwei wollten, wenn schon, dann richtig. Glücklicherweise haben sie sich nie aufgerafft, aus der Kirche auszutreten, mit der sie eigentlich nichts am Hut haben, und zum Heiraten finden sie Katholischsein ganz gut, schließlich sind die Kirchen viel schöner. Eigentlich kommen sie aus dem glanzlosen Berlin, da könne man ja irgendwann mal ein Bier zusammen trinken in Kreuzberg. „Wie war noch mal dein Name? Und ist das hier eine Art Studentenjob?“ Vor allem ist es ein beliebter Erasmus-Job. Die Ausländer, die herkommen, um sich trauen zu lassen, sollen Trauzeugen bekommen, mit denen sie sich unterhalten können. Meistens brauchen sie jemanden, der ihnen ein bisschen was von Rom erzählt, den zeremoniellen Ablauf erläutert und ihnen das Unbehagen am Geschäft des Heiratens im Akkord ausredet, das hier mit ihnen betrieben wird.

Diese zwei nehmen die Sache nicht allzu ernst und sehen auch eher witzig als ehrfurchtsvoll-festlich aus: Nina hat ein leicht zerschlissenes Kleid aus verwaschener roter Seide mit Turnschuhen darunter an und Clemens einen cremeweißen Elvis-Anzug, extra noch secondhand besorgt.

Die Kinder sind unausgeschlafen, der Junge muss aufs Klo, aber da kommt schon Carina und schiebt uns in die Kirche, in einem kleinen Hinterzimmer werden noch die standesamtlichen Formalitäten erledigt, dann geht es los.

Vor dem Altar der frühchristlichen Basilika stehen sechzig golden bemalte Plastikstühle mit rotem Polster. Man muss vor der Hochzeit die Anzahl der Gäste angeben, damit die mobilen Stuhlreihen jeweils voll besetzt sind, aber weil nach uns wieder eine größere Hochzeitsgesellschaft kommt, hat sich keiner die Mühe gemacht, alle Stühle wegzuräumen. Mit den zwei Kindern sitze ich in der ersten Reihe, hinter uns bewundern zwei Touristinnen die silbrige Sonne, deren Licht durch die hohen Fenster fällt, und Carina dirigiert das Brautpaar vor den Altar. Dem Pfarrer mit dem holprigen Deutsch bleiben nur Minuten, um die Zeremonie hinter sich zu bringen, Nina und Clemens haben kaum Zeit, aufgeregt zu sein oder sich zu konzentrieren. Ich gehe mit den Ringen nach vorne, sie will, er will, der Kuss fällt unbeholfen aus, die Kinder grinsen, und es ist doch eine richtige Hochzeit, irgendwie.

Carina und ein Fotograf warten an der Tür, heute haben sie Reis mitgebracht, den die zwei Kinder ein bisschen herumwerfen dürfen, und wir klatschen zu dritt, dann wird der Kuchen aus dem Papier gegessen, eine Flasche Sekt geht herum, und das Brautpaar entspannt sich. Echt skurril fanden sie alles, jetzt wollen sie was essen. Ich gehe mit Carina um die Ecke, um mir mein Geld geben zu lassen.

Tschüss!, rufen die Kinder noch aus dem Taxi, jemand fegt auf dem Vorhof den Reis weg für das nächste Paar, das schon vor der Kirche wartet.

LOTTE EVERTS, 24, ist Praktikantin im taz.mag