: Das Auf und Ab
Zu Besuch bei einer Übersetzerin
VON GABRIELE GOETTLE
Verdrossen der Öde, frag ich die blaue Weite, die große Erde: Wer meistert das Auf und Ab? (aus einem Gedicht von Mao Tse-tung von 1925)
Dr. Na Ding, Übersetzerin, lebt in München. Nach d. Abitur 1973 Arbeit als Lehrerin. 1978–1982 Studium d. Germanistik an d. Peking-Universität (Abschluss: Bachelor of Arts). 1983–1985 Lektorin f. deutsche Sprache im Verlag „Higher Education Press“ Peking. 1985–1987 Studium an d. Ludwig-Maximilian-Universität München (Deutsch als Fremdsprache, Abschluss: Magister Artium, mit Note 1). 1987–1989 Rückkehr in den Verlag in Peking. 1989–1995 Promotionsstudium an der Uni München (Thema der Dissertation: Die Rezeption deutschsprachiger Literatur in der VR China von 1949–1990). Arbeit als Übersetzerin/Dolmetscherin bei der Münchener Rückversicherungs-Gesellschaft. Seit 1997 freiberufliche Übersetzerin, neben beruflicher Arbeit bei der Patent- und Rechtsanwälte-Kanzlei Hansmann & Vogeser. Frau Na Ding übersetzte zahlreiche Bücher u. Schriften bekannter Autoren, u. a.: E. Kästner, Emil und die drei Zwillinge; G. Hauptmann, „Suche impotenten Mann fürs Leben; P. Stamm, Blitzeis; Elfriede Jelinek, Krankheit oder Moderne Frauen. Frau Na Ding ist 1955 in Peking, VR China, geboren, ihre Eltern waren Kader. Sie lebt in Trennung und hat einen Sohn.
Kennen- und schätzen gelernt habe ich Frau Na Ding, als sie mein Buch „Experten“ liebevoll und akribisch ins Chinesische übersetzte. Nach kurzem Zögern war sie zu einem Porträt bereit. Wegen einer rheumatischen Erkrankung am Reisen gehindert, bat sie mich, zu ihr nach München zu kommen.
Ihr kleines Apartment im fünften Stock eines Hochhauses liegt im Münchner Stadtteil Untersendling. Sie hat keine Bilder an den Wänden und keinerlei Zierrat herumstehen. Ihr Wohnzimmer und Arbeitszimmer ist mit schönen, rein funktionalen Holzmöbeln eingerichtet. Außer den chinesischen Büchern im Regal und den Bambuspflanzen auf der Fensterbank deutet nichts darauf hin, dass hier eine Chinesin lebt. Wir setzen uns ans Fenster zum Balkon, sie schenkt Tee ein und lächelt, auf meine Bitte hin, möglichst chronologisch zu erzählen.
„Als ich geboren wurde, im Jahr 1955, da war China noch sehr gut befreundet mit der Sowjetunion, und deshalb haben meine Eltern mir diesen Namen Na als Vornamen gegeben. In Anlehnung an Anna, Nina, Iwanowna … Meine Eltern waren beide Kader, und sie waren so sehr beschäftigt, dass sie überhaupt keine Zeit hatten für mich. Sie waren im sogenannten Ministerium für Güter zuständig für die Umsetzung der Planwirtschaft, sie mussten die Güter aus allen Gebieten organisieren und wieder verteilen. Meine Oma hat mich großgezogen. Sie war im Jahr 1900 geboren und durfte als Mädchen nicht zur Schule gehen. [Erst ab 1920 durften in China auch Mädchen die Schule besuchen; Anm. G.G.] Ihre Brüder wurden von Privatlehrern unterrichtet, die kamen ins Haus, und meine Oma durfte dabeibleiben. So hat sie einiges mitbekommen, konnte lesen und etwas schreiben, sie hatte sogar eine schöne Handschrift. Sie war klug und aufgeschlossen, und sie kannte sich mit Kindern aus. Zehn Kinder hat sie geboren, sieben sind groß geworden. Sie sagte immer zu mir: ‚Mein Bauch ist wie ein Hotel, kaum ist der eine Gast ausgezogen, zieht der andere schon wieder ein.‘ Ich selbst bin Einzelkind. [Die Einkindpolitik wurde erst 1980 unter Deng eingeführt. Anm. G.G.]
Meine Eltern wollten, dass ich als Einzelkind unbedingt kollektiv erzogen werde. Meine Großmutter sollte mich in einen Kindergarten bringen, aber ich habe mich erfolgreich gewehrt. Später haben mich meine Eltern dann aber doch in eine Art Internatskindergarten geschickt. Das war so ein Sonderkindergarten für die Kaderkinder, es war eine neue Art von Kindergarten, nach russischem Vorbild. Auf Chinesisch hieß das boayuyuan, boayu bedeutet so viel wie pflegen, yuan ist wie ein Heim. Das war für Vorschulkinder und ganz schrecklich für mich! Es war während der Hungersnotzeit, und im Kindergarten konnte man sich noch einigermaßen satt essen – meistens jedenfalls –, aber ich habe damals dort die Ungerechtigkeit kennengelernt. Das hat mir gar nicht gefallen!
Und dann bin ich mit sieben Jahren in die Schule gekommen. Bei uns ist das Schulsystem anders als hier. Man kommt faktisch mit sieben Jahren in die Schule. Die Grundschule dauert sechs Jahre. Danach folgen drei Jahre Mittelschule, untere Stufe und drei Jahre Mittelschule, obere Stufe, der Abschluss ist das Abitur. Bei uns macht praktisch jeder Schüler Abitur. Das verschafft aber keinen automatischen Zugang zum Studium. Um einen Studienplatz zu bekommen, muss man an einer staatlichen Aufnahmeprüfung teilnehmen. Das wurde 1977 eingeführt, weil wir so viele junge Leute haben und die Studienplätze an den Hochschulen und Universitäten begrenzt sind. Vorher gab es sogenannte Arbeiter-Bauern-und-Soldaten-Studenten, das heißt, die mussten zuerst nach dem Abschluss bei den Arbeitern, Bauern oder Soldaten mitmachen, und wenn sie da gut waren, dann wurden sie von den Arbeitern, Bauern oder Soldaten für ein Studium empfohlen. Seit einiger Zeit muss man nun zuerst ungefähr einen Monat lang zur Armee. Männer und Frauen. Das wurde neu eingeführt nach dem Massaker auf dem Tiananmen-Platz 1989. Man sagte, die Studenten sind von Schultor zu Schultor gegangen, ohne die Gesellschaft kennenzulernen. Deshalb sollen sie zu den Soldaten gehen. Aber nicht mehr zu den Bauern“, sie lacht, „damals, als ich Lehrerin war, bin ich jedes Jahr im Juni mit meinen Schülern aufs Land zu den Bauern gegangen, um bei der Ernte zu helfen. Und auch in Fabriken sind wir gegangen, damit die Schüler mitmachen und lernen, wie die Arbeiter arbeiten.“
Auf meine Frage, ob ihr eigener Schulunterricht militärisch diszipliniert organisiert gewesen sei, sagt sie: „Nein, eigentlich nicht. Wir hatten pro Woche zweimal Sportunterricht, und an der Uni mussten wir, die ganze Klasse, frühmorgens zwei bis drei Runden um den Sportplatz laufen. Und im Klassenraum, wenn der Lehrer hereinkam, dann sagten der oder die Klassenälteste: Aufstehen! Dann sind alle aufgestanden. Der Lehrer sagte: Grüß euch, meine Schüler. Und die Schüler sagten: Wir grüßen unseren Lehrer. Aber ab 1966 dann, während der Kulturrevolution, musste man vor jedem Unterricht zuerst ein Zitat von Mao aus der …, im Westen sagte man ‚Mao-Bibel‘, auswendig lernen. Sie gehörte zur Ausstattung jedes Schülers. Die Zitate waren überall! [Die Mao-Bibel wurde ab 1966 zu hunderten von Millionen gedruckt. Anm. G.G.] Auch wenn ich anrufen wollte, dann hörte ich zuerst irgendein Zitat von Mao, dann musste ich ein anderes als Antwort sagen. Wenn ich das nicht gemacht habe, wurde sofort abgebrochen. Alle Erwachsenen und Schulkinder haben die Zitate auswendig gelernt. Ich habe immer viel gelesen als Kind, viele Bücher. Meine Eltern haben mir eine Buchserie geschenkt – das war noch vor der Kulturrevolution, also vor 1966 –, sie hieß ‚Zehntausend Warums‘. Auf dem Schulweg zur Schule – es war ein Viertel, da wohnten viele Moslems – habe ich eines Tages die Geburt eines Lämmleins gesehen und dass es kurze Zeit später schon aufstehen und gehen konnte. Zu Hause habe ich dann gefragt: Weshalb können die Lämmer das und wir Menschen nicht? Man konnte mir keine gescheite Antwort geben. Deshalb die Bücher. Sie waren extra für Kinder, mit sehr vielen Erklärungen, von Naturerscheinungen angefangen bis zu allgemeinen Fragen. Darin habe ich eifrig alles gelesen. Und ich habe auch schon sehr früh angefangen, mich für Literatur zu interessieren.
Damals gab es bei uns eine Zeitschrift, Kinderliteratur hieß sie und erschien monatlich oder vierteljährlich, immer ein Band. Jedenfalls haben meine Eltern sie für mich abonniert. Es gab kleine Geschichten, Gedichte und eine Art Fortsetzungsroman. Und Bilder natürlich. Ich habe das sehr gemocht, Zeitschriften und Bücher.“
Frau Na Ding schenkt uns Tee nach und fährt fort: „Die Schule, die ich damals besuchte, war von der Qualität her nicht sehr gut. Im dritten Schuljahr hat der Lehrer uns gesagt, es gibt die Möglichkeit, durch eine Aufnahmeprüfung zur Fremdsprachenschule Peking zu wechseln. Unser Ministerpräsident Tschou En-lai war viel im Ausland – er war auch als Werkstudent in Deutschland –, und er hat gesagt, eine Fremdsprache soll man möglichst früh lernen. Und deshalb hat man diese Pekinger Fremdsprachenschule gegründet. Ich bin also nach Hause gegangen und habe meine Eltern gefragt: Soll ich das machen? Sie sagten: Warum nicht? Aber als ich sagte, ich würde gerne Englisch lernen, sagten sie: Das wollen alle. Wie wär’s mit Deutsch? Ich fragte: Warum Deutsch? Und meine Eltern sagten: Deutschland hat eine sehr große literarische Tradition, es gibt Goethe, Schiller und viele andere, weil du dich für Literatur interessierst, ist das wahrscheinlich etwas für dich. Außerdem ist Deutschland auch technisch und industriell sehr hoch entwickelt. Ich dachte, gut, dann mache ich das, und habe die Prüfung gemacht. Zuerst wurde in Mathematik und Chinesisch geprüft, dann sind wir in eine Art mündliche Prüfung gegangen. Die Lehrer sagten uns deutsche Buchstaben vor, und wir mussten sie nachahmen. Was die Schrift betrifft, so war das kein Problem. Wir haben diese lateinische Umschrift fürs Chinesische, dieses Pinyin. Wenn man in die Schule kommt, dann lernt man zuerst dieses Pinyin, es ist wie eine Art Gehstock. Heute in China, in den chinesischen Großstädten Peking, Schanghai, da sind die Straßennamen auch in Umschrift zu lesen, damit die Ausländer sich zurechtfinden können.
Das konnte ich also und habe die Prüfung bestanden. Ich fing an, Deutsch zu lernen in dieser Schule. Das war 1964. Und nicht einmal zwei Jahre später brach schon die Kulturrevolution aus. Die Schulen wurden geschlossen. Es gab keinen Unterricht mehr, und wir wurden nach Hause geschickt. Darüber waren wir sehr erfreut. Wir haben wie verrückt zu Hause immer miteinander gespielt, den ganzen Tag. Endlich konnten wir uns austoben. Für lange Zeit ging das so, und allmählich fühlte man sich etwas gelangweilt, so ohne Unterricht. Einmal hat Mao gesagt: Die Schüler müssen wieder zum Unterricht zurückkehren. Wenn ich mich nicht irre, war es inzwischen schon 1968. Wir hatten also schon fast zwei Jahre zu Hause verbracht, und es gab kein Konzept, keinen Vorschlag dafür, was wir zu Hause machen. Das betraf ja den gesamten Sektor Erziehung, nicht nur Peking oder unsere Schule. Mao war der Meinung, der gesamte Sektor Erziehung ist revisionistisch und nicht am Proletariat und den Bauern orientiert, sondern an der Bourgeoisie, er sagte, dass bürgerliche Intellektuelle über unsere Schulen herrschten, diese Intellektuellen müssen endgültig besiegt werden. Viele Lehrer sind aufs Land geschickt worden, viele Lehrer sind in den Schulen geblieben und wurden dort politisch geschult. Und Sie haben vielleicht schon von der ‚7.-Mai-Kaderschule‘ gehört? Es war so, damals hatten wir schon eine sehr schlechte Beziehung zur Sowjetunion, es war eine Stimmung, als ob jeden Tag ein Krieg ausbrechen könnte. Dann hat Lin Biao, glaube ich, diese Idee gehabt, diese sogenannten 7.-Mai-Kaderschulen einzurichten. [In einer Direktive vom 5. Mai 1966 kritisierte Mao u. a. das Spezialistentum. Eine Erklärung vom Oktober 1968 rief die Kader aus allen Bereichen zur Verrichtung körperlicher Arbeit auf, da die Gefahr bestehe, dass sie nur noch vom lebensfernen Schreibtisch aus regieren und „zu Bürokraten und hohen Herren“ werden. Anm. G.G.] Und nun wurden plötzlich viele Kader aufs Land geschickt. Sie sollten sich da quasi selbst versorgen – ohne die Hilfe der Bauern – mit Nahrungsmitteln und Unterkunft. Und auch meine Eltern wurden nach dieser ‚7.-Mai-Anweisung‘ aus Land geschickt, in die Provinz Henan. Diese Kaderschulen waren überall in allen Provinzen. Und in der Provinz Henan, da hatten allein acht Ministerien ihre Kaderschulen eingerichtet. [Henan ist die sogenannte Kornkammer Chinas. Anm. G.G.] Da hatten sie ganz einfache selbstgebaute Unterkünfte, zum Teil aus Lehm, sie haben Gemüse und Reis angepflanzt. Ich habe mich dann entschieden, zusammen mit meiner Oma, den Eltern aufs Land zu folgen. Wir Familienangehörigen wurden aber in einem anderen Kreis untergebracht. Da gab es auch eine Mittelschule, und dort bin ich dann wieder zum Unterricht gegangen nach langer Zeit.
Und dort habe ich die Mittelschule abgeschlossen und bin dann, mit 15 etwa, allein wieder zurückgekehrt nach Peking. Dort bin ich für zwei Jahre in die Fremdsprachenschule gegangen. Die hatte inzwischen ihre Form geändert und hieß nun pädagogische Fremdsprachenschule. Früher konnte man nach Abschluss dieser Schule direkt zur Uni gehen. Nun sollten alle Schüler nach dem Abschluss Lehrer werden an irgendeiner Mittelschule in Peking. Tschou oder irgendeine andere Person hat gemeint, in der normalen Mittelschule soll man Fremdsprachen lehren. Und deshalb bin ich als Lehrerin an eine Mittelschule gegangen, als ich 17 Jahre alt war, und habe dort fünf Jahre lang gearbeitet. Ich hatte 54 Schüler in der Klasse, die waren alle in der Pubertät, und sie wussten nicht, dass ich nur drei Jahre älter war als sie. Und es war so: Als ich da anfing, fast zum Ende der Kulturrevolution, da war es nicht mehr so schlimm, aber er war immer noch spürbar, der Gegensatz: Wir, die Lehrer, sind stinkende Intellektuelle, und sie sind die revolutionären Schüler. Sie wollten sich nichts sagen lassen. Unser Direktor von der Schule hat zu uns jungen Lehrern gesagt: ‚Solange ihr während des Unterrichts noch in den Klassenzimmern bleibt und nicht weglauft, ist das schon ein höchster Sieg.‘ Damals war ich auch Lehrerin für Deutsch, und meine Schüler haben gefragt: ‚Sagen Sie uns mal, wozu lernen wir Deutsch? Wenn wir Englisch lernen würden, könnten wir wenigstens den Werbetext auf der Dose lesen. Aber Deutsch? Zeit unseres Lebens werden wir nicht einem einzigen Deutschen begegnen!‘ Was sollte ich machen? Sie waren nicht motiviert. Unter meinen 54 Schülern waren ungefähr zehn aus intellektuellen Familien, die haben fleißig gelernt. Alle anderen haben nur gespielt. Sie haben kaum gelernt. In Deutsch nur: Hier ist der Tisch, hier ist das Heft usw. An der Schule waren vielleicht 300 Schüler damals, die Deutsch lernten. Von denen gibt es zwei oder drei, die später noch mal was mit Deutsch zu tun hatten. Die anderen haben also umsonst gelernt.
Und nach fünf Jahren an dieser Schule habe ich dann 1978 die Aufnahmeprüfung an der Peking-Universität gemacht und Germanistik studiert. Wir haben damals vier Jahre lang an der Uni Deutsch studiert, viele hatten keine Vorkenntnisse; aber auch für mich, ich hatte ja Vorkenntnisse, war es nicht leicht. Es ist für Chinesen sehr schwierig, Deutsch zu lernen. Unsere Sprache hat so gut wie keine Grammatik. Vor allem haben wir kein der, die, das. Am Anfang haben wir immer gefragt: Warum?! Messer, Gabel und Löffel, die sind doch aus demselben Material. Für denselben Zweck! Weshalb hat jedes einen anderen Artikel? Im Chinesischen sagt man einfach: Ich nehme Messer. Und wir haben keine Zeitform. Wir sagen nicht gehen, ging, gegangen. Wir sagen ‚gehen‘. ‚Gehen‘ ist das Wort. Ein Zeichen. Ich gehen gestern ins Kino, sagen wir. Wenn man ‚gestern‘ hört, weiß man schon, wann das passiert ist. Ich glaube, die Deutschen denken oft auch ein bisschen anders als die anderen Europäer, zum Beispiel sagen die anderen der Sonne und die Mond, die Deutschen sagen die Sonne und der Mond. Und was ich auch bis heute nicht verstehe: Man sagt ‚die Französin‘, ‚die Italienerin‘, ‚die Russin‘, ‚die Belgierin‘ usw., aber eine Deutschin, die gibt es nicht. Keiner konnte mir das beantworten bisher. Also, man kommt sich vor wie ein Jongleur im Zirkus, kommt hier Präsens oder Vergangenheit, kommt der, die oder das, ist das Akkusativ oder Dativ, und wenn man das alles überlegt, ist da immer die Angst, gleich fällt ein Ball zu Boden.
Viele Chinesen sind vom Charakter her sehr schüchtern. Sie wollen nicht fehlerhaft sprechen. Da machen sie den Mund lieber gleich gar nicht mehr auf. Zum Glück hatte ich gute Lehrer. Wir hatten an der Uni auch Lehrerinnen und Lehrer aus Deutschland. Besonders interessant war eine Frau, die hieß Zhao Lin, Keti. Ihr deutscher Name war Käthe Linke. Sie war mit einem Chinesen verheiratet, seit 1947 in China und ist mit 99 Jahren gestorben, im Jahr 2005. Der ehemalige deutsche Außenminister Genscher hat ihr einen Brief geschrieben und sie sehr gelobt für ihre Leistungen auf dem Gebiet des Kulturaustauschs zwischen Deutschland und China. Fast alle Leute, die in China etwas mit Deutsch zu tun haben, kennen ihren Namen. Sie war uns eine gute Lehrerin, und wir haben viele literarische Werke gelesen. Das war auch noch aus einem anderen Grund für uns sehr interessant. Sie müssen bedenken, damals, als wir an die Uni kamen, das war kurz nach der Kulturrevolution. Während der Kulturrevolution hatten wir neben Maos rotem Büchlein und den üblichen theoretischen Werken nur noch ein Buch, es heißt: ,Die Geschichte von Me Sung‘. Me Sung, ein Soldat, hat praktisch immer gute Werke getan für andere. Und Mao hat geschrieben: ‚Lernt vom Genossen Me Sung, das ist ein vorbildlicher Soldat.‘ Sonst gab es keine Literatur. Nicht einmal die chinesischen Schriftsteller, überhaupt nichts zum Lesen! Nicht einmal zu Hause. Es war alles verboten.
An Kultur hatten wir damals eigentlich nur diese acht vorbildlichen Opern, von Maos Frau inszeniert. Und ein paar wenige Filme aus dem ehemaligen Jugoslawien, aus Albanien und Nordkorea. Die Bücher waren weg. Die meisten Familien haben ihre Bücher selbst verbrannt. Meine Eltern hatten sehr viele Bücher, sie standen vor dem Regal und mussten wählen. Die meisten haben sie selbst im Garten verbrannt. Die weniger gefährlichen, die hat man als ‚unbrauchbares Papier‘ verkauft. Es hieß, wenn man das nicht selbst macht, dann kommen die Roten Garden schon ins Haus und übernehmen das. Viele Parteikader, besonders die hohen, wurden während der Kulturrevolution – über Nacht – als sogenannte den kapitalistischen Weg gehende Machthaber bezeichnet. Da war keine Sicherheit mehr. Mein Großvater hat damals beim Telegrafenamt gearbeitet, und er hatte zu Hause so ein Ding zum Üben, wie zum Morsen. Aber nur so, zum ‚Blindüben‘. Die Rotgardisten sind reingekommen und haben überall nach einem ‚Feindsender‘ gesucht, auch bei uns. Das war eine schwierige Zeit.
Und dann, kurz danach, plötzlich wurden die alten Sachen neu gedruckt. Das war in den Jahren 1978 bis 1980. Da hat man alles wieder neu aufgelegt, und überall gab es Buchhandlungen voll mit Büchern. Die Studenten haben wirklich Schlange gestanden, um die Weltliteratur zu kaufen, und die Preise waren ziemlich günstig. Und da hat man, praktisch nach so langer ‚Hungersnot‘, das alles gelesen. Es gab den ‚Faust‘ und solche Sachen. Und sehr beliebt sind bei uns Storm, Fontane und Stefan Zweig, denn da liest man immer eine Geschichte, sehr schön formuliert. Diese supermoderne oder diese mehr abstrakte Literatur hat weniger Chancen bei den Chinesen. Man sagt: Diese andere, diese schwer zu verstehende, sehr philosophische deutsche Literatur, für die interessieren sich nur die chinesischen Germanisten, Leute, die sich als Forscher damit beschäftigen.
Die normal sterblichen Chinesen, die lesen auch sehr gerne französische Literatur oder russische oder englische. Wir haben glänzende Übersetzungen. Damals, in den 20er-, 30er-Jahren, haben die meisten Chinesen, die im Ausland Geisteswissenschaften studiert haben, das in England, Amerika, Frankreich und Russland getan. Wer in Deutschland studiert hat, hat meistens Naturwissenschaften studiert. Das beeinflusste natürlich auch die Übersetzungen. Auch ich selbst, bevor ich mich mit der deutschen Literatur befasst habe, habe von den anderen Nationen schon die Weltliteratur gelesen. Wir haben einen sehr berühmten chinesischen Schriftsteller, Lu Xun, 1936 ist er gestorben. Er gilt als Begründer der chinesischen modernen Literatur, hatte selbst eine klassische Bildung erhalten und war zum Gegner dieser konservativen klassischen Bildung geworden. Er sagte: Die jungen chinesischen Leute sollen es am besten vermeiden, die chinesische Klassik zu lernen, das engt nur ein. Sie sollen die westliche Literatur lesen, da entwickeln sie sich besser.
Und daher habe ich auch so viele westliche Werke gelesen, in Übersetzungen. In der Uni haben wir dann alles im Original gelesen. Storms ‚Immensee‘, und was mir wirklich gut gefallen hat, war der Roman ,Effi Briest‘ von Fontane. Gern hatte ich auch die Novellen und Erzählungen von Stefan Zweig, auch Gottfried Keller mochte ich sehr. Später hab ich dann versucht, die ‚Buddenbrooks‘ zu lesen – damals in der Uni haben wir das in Auszügen gelesen –, und ich dachte, oh, das ist so schwer, so philosophisch. Das ist zum Beispiel bei den Franzosen nicht so. Ich lese sehr gern Victor Hugo, Balzac … Mir ist aufgefallen, was die Handlung betrifft, so ist die deutsche Literatur oft nicht so lebhaft und so fesselnd wie die russische oder die französische Literatur. ‚Rot und Schwarz‘ von Stendhal zum Beispiel, wenn man das zur Hand genommen hat, dann hat man vergessen, zu essen und zu schlafen.
Wir haben damals an der Uni auch Kafka gelesen, dieses ‚Schloss‘, das ‚Urteil‘, den ‚Hungerkünstler‘, die ‚Verwandlung‘. Da war das auch so, dass man es nicht beiseitelegen kann und weiterlesen muss. Wir haben in China ja auch solch eine Tradition. Das Buch heißt ‚Liaozhai Zhiyi‘, es ist von einem Schriftsteller aus dem 17. Jahrhundert, Pu Songling, und da gibt es auch fantastische Sachen, alle möglichen Tierarten und Verwandlungen.“ [Kafka kannte diese Geschichten, die von Martin Buber unter dem Titel „Chinesische Geister- und Liebesgeschichten“ 1911 mit übersetzt und herausgegeben wurden, er erwähnt sie in einem Brief an Felice am 16. 1. 1913. Anm. G.G.] Auf meine Frage, ob für Chinesen ein einsames, entfremdetes Individuum eigentlich vorstellbar ist, lacht sie und sagt: „Ich verstehe … Das Individuum bei uns, das ist traditionell nicht sehr groß geschrieben. Das sieht man schon beim Briefumschlag. In Europa steht zuerst Herr oder Frau Sowieso, dann kommt die Straße, dann die Stadt und das Land. Bei uns ist es umgekehrt: Zuerst VR China, dann Peking, dann der Bezirk, danach die Straße, und erst dann kommt Herr oder Frau Sowieso. Man ist nicht so isoliert als Individuum, man ist immer vernetzt in einem sozialen System. Erst hier habe ich gelernt zu denken: Was möchte ich, was gefällt mir, was würde ich tun? Bei uns muss man das Ich zuletzt hinstellen. Ja, vielleicht ist es möglich, dass wir Kafka nicht vollkommen in der Tiefe verstanden haben. Unsere Lehrer haben uns natürlich zuvorkommende Erklärungen angeboten. Wir haben aber auch neuere Literatur gelesen, Döblin, Grass, Böll, Enzensberger, und haben viel gelernt.
Ich habe 1982 den Abschluss an der Peking Universität gemacht und danach“, sie macht eine winzige Pause, „geheiratet und ein Kind bekommen und als Übersetzerin und Lektorin gearbeitet. Dass ich einmal nach Deutschland gehen werde und ganz anders leben würde, das hätte ich nicht gedacht. In Peking hätte ich gelebt wie eine Henne in Käfighaltung, hier lebe ich wie eine Henne in Bodenhaltung.“ Wir lachen sehr. Ich frage, ob sie eigentlich je mit ihren Eltern über ihr Leben gesprochen hat. „Gar nicht, leider, bis zuletzt habe ich das nicht geschafft. Meine Mutter ist im Jahr 1994 gestorben und mein Vater 2002. Meine Großmutter starb schon 1974. Als ich Lehrerin war, da kam ich immer in den Ferien zu meinen Eltern. Ich habe eine Tasche voll Bücher mitgebracht und viel gelesen. Die beiden sind morgens zur Arbeit – sie waren ja Parteifunktionäre, nicht so extrem links, aber eben zuverlässig –, und abends kamen sie zurück, wir haben gegessen und gingen ins Bett. Ich kannte meine Eltern eigentlich gar nicht. Ich habe mit meinen Eltern zusammengerechnet nicht einmal fünf Jahre meines Lebens verbracht. Und bei uns ist es auch so: Die Eltern sind immer eine Autorität.
Also, diese gleichberechtigte Unterhaltung, die ist so gar nicht denkbar. Sie wissen, dass die Nordchinesen ihre Eltern siezen? Ich habe meine Eltern immer gesiezt, auch meine Großmutter. Das bringt natürlich Distanz. Auch das körperliche Verhältnis zwischen Eltern und Kindern ist distanziert. Man sagt: Die meisten Chinesen haben einen Charakter wie eine Thermoskanne, das Innere ist warm, es dringt aber nicht nach außen. Als mein Sohn – ich habe ihn bei seiner Großmutter in China zurückgelassen, ihn aber, sooft ich konnte, besucht –, als er dann 18 war, habe ich ihm angeboten, einander zu duzen. Das hat er auch angenommen. Jetzt rufe ich ihn jede Woche einmal an. Ich habe mit ihm auch über Sex geredet. Meine Eltern, die haben mir bei solchen Lebenskreuzungen nie geholfen. Bei uns reden die Eltern mit den Kindern nur sehr selten über Sex, und in der Schule, im ‚Grundkenntnisunterricht‘, da war das Thema vollkommen abstrakt und unanschaulich. Also, das wollte ich besser machen als meine Eltern. Aber es ist eben so: Wenn man lange Jahre im Ausland lebt, dann ist das ein Gefühl, als sitze man zwischen zwei Stühlen. Für die Chinesen bin ich zu europäisch, für die Europäer bin ich zu chinesisch.“
Ich bitte sie, mir von ihrer Arbeit als Übersetzerin beziehungsweise von ihrer schwierigsten Übersetzung zu erzählen. Sie antwortet spontan: „Jelinek! Das war eine Geschichte! Normalerweise – das ist ein Prinzip – mache ich nur Übersetzungen, die ich mag, ich habe ja einen Nebenjob. Also, ich finde, wenn man ein Buch schon nicht mag, wenn man das dann übersetzen muss, dann ist das wie eine misslungene Ehe. In diesem Fall – es war das Theaterstück ‚Krankheit oder Moderne Frauen‘ – hatte ich keine Zeit, das ganze Buch zu lesen, habe nur flüchtig durchgeblättert und die Übersetzung angenommen. Und es ist so, wenn ich übersetze, dann habe ich immer mehrere deutsche Bekannte und Freunde, die mir helfen, die schwierigsten Probleme zu lösen. Diesmal haben sie sich nicht äußern wollen, oder können. Ich saß also an diesem Buch – 70 Prozent etwa habe ich verstanden, der Rest ist mir unklar oder unverständlich.“ Ich bitte um ein Beispiel. Sie holt Original und Übersetzung aus dem Regal, schlägt das Original auf und blättert. Die Seiten sind voller Anmerkungen in kleinen chinesischen Schriftzeichen, es sieht sehr geordnet und schön aus. „Es gibt so viel … hier, ein Beispiel: ‚Die Fut ist gut. Arbeiterinnen, die ihren Namen zuerst verdienen, stopfen sich das faulige Obst ihrer Kinder wieder zurück in die Geschlechtsschatulle. Sie sprechen eine Weigerung aus. Sie tragen schwarze Lasten.‘ So. Ich habe mehrere Leute gefragt: Was meint sie hier mit ‚das faulige Obst ihrer Kinder wieder zurück …‘? Der Verlag hat die Fragen alle dann an Frau Jelinek weitergeleitet. Sie hat dann auch recht bald geantwortet, per Mail, und erklärt, sie kommt eben erst nach langer Zeit wieder nach Wien und hat viele Sachen zu erledigen, sie wird sich dann aber so schnell wie möglich melden. Ich habe lange gewartet. Dann kam ein Brief. Sie schrieb, es tut ihr leid, dass sie die Fragen nicht beantworten kann, denn sie benutze eine Kunstsprache. Sie machte den Vorschlag, ich solle doch einfach nachdichten und nicht direkt übersetzen. Auch eine Freundin von ihr in Wien könne mir helfen.
Aber viele Fragen blieben offen. Mir ist das bis heute nicht klar, ‚das faulige Obst ihrer Kinder‘, zurück in die ‚Geschlechtsschatulle.‘ In die eigene? Oder in die der Kinder? Um etwas nachzudichten, muss man es erst mal verstehen. Ich habe also nicht ein chinesisches Bild wie: Drachen zeugen Drachen, Phönixe zeugen Phönixe genommen, ich habe einfach wörtlich übersetzt: Diese Arbeiterinnen haben das faulige Obst ihrer Kinder wieder in das Geschlechtsteil hineingeschoben. Aber so richtig gefallen hat mir das selbst nicht. Es gibt keine Entsprechung bei uns. Jelinek ist fast unübersetzbar. Ein berühmter chinesischer Übersetzer stellte 1898 mal drei Kriterien für das Übersetzen auf: xin, da, ya (Werktreue, Verständlichkeit, Eleganz). Das strebe ich an. Aber hier, sehen Sie, die Übersetzung ist viel dicker. Normalerweise wird ein deutsches Werk bei der Übersetzung immer ‚verschrumpft‘ um ein Drittel, weil wir ja diese Endungen und Artikel usw. nicht haben. Hier ist das nicht der Fall. Diese Übersetzung war für mich der härteste Knochen in meinem Berufsleben.
Aber das ist eben Freud und Leid des Übersetzers. Meistens machen mir die Übersetzungen Freude und wenig Probleme. Ich bin sehr gerne Übersetzerin. Wenn ich literarische Werke übersetze, dann vergesse ich manchmal total, dass ich eigentlich arbeite, so sehr bin ich in den Text vertieft. Es ist eher spielerisch, oft. Inzwischen bin ich ja schon fast 20 Jahre in München, die Sprache und die Stadt sind meine zweite Heimat geworden. Ein Bekannter sagt, manchmal bin ich deutscher als die Deutschen – er ist ein Deutscher. Aber wahrscheinlich ist das nur äußerlich. Im tiefsten Innern bin ich noch eine Chinesin, ich träume nur sehr selten auf Deutsch.“
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