Struppiladen ohne Schrotträder

HAUSBESUCH Hakim hat einen Rückspiegel am Lenker und „ständig Angst“ beim Fahren, Jan seine Radsammlung aus Platzgründen aufgegeben. Und ihre Kunden? Wollen Klappräder mit Raketenantrieb. Im Fahrradkollektiv in Berlin

VON MARLENE GOETZ
(TEXT) UND AMÉLIE LOSIER (FOTOS)

Berlin-Kreuzberg, Kottbusser Straße, ganz in der Nähe vom Landwehrkanal. Zu Besuch in der Rad-Spannerei bei Jan Ungerer (42) und Hakim (65).

Draußen: Rechts das Fahrradgeschäft mit Rennrädern im Schaufenster, links die Werkstatt. Unter dem himmelblauen Schild „Rad-Spannerei“ viele Fahrräder, an der Wand ein Luftschlauch, mit dem Fahrradfahrer kostenlos ihre Reifen aufpumpen.

Drin: In der Werkstatt sind alle damit beschäftigt, den Kunden ihre Fragen zu beantworten. An den Wänden hängen Werkzeuge, im Geschäft nebenan ganze Räder und diverse Ersatzteile, die Atmosphäre ist trotz Andrang entspannt.

Wer macht was? Jan verkauft die Fahrräder, aber nur neue („Die Frage: ‚Verkauft ihr auch gebrauchte Räder?‘ kann ich nicht mehr hören“). Er sorgt für Vorräte und macht viel „Administratives“. Hakim arbeitet in der Werkstatt und repariert wie am Fließband: „Es gibt im Fahrradbereich keine Pause mehr, innerhalb von zwei Jahren hat sich die Anzahl an Radfahrern fast vervierfacht.“

Wer denkt was? „Wir sind so ein Struppiladen“, sagt Jan und lacht über das Loch in seinem T-Shirt. Trotzdem kommen viele Leute. „Für eine bestimmte Bevölkerungsschicht ist das Thema Fahrradfahren schon wie eine Religion“, sagt Hakim, der gerne nur noch die im Laden gekauften Räder annehmen würde. „Das Rad ist zum Statussymbol geworden“, sagt Jan. Dadurch sei Radeln gefährlich. „Die Straßen sind voll mit Fahrrädern, viele Menschen haben aber überhaupt kein Bewusstsein dafür“, sagt Hakim. Er hatte ein paar kleine Unfälle („Man hat keinen Überblick mehr“), die meisten Räder, die Hakim repariert, sind durch andere Fahrräder beschädigt worden, „nicht durch Autos, wie früher“. Er selbst hat einen Rückspiegel angebaut und fährt vorsichtig, hat aber „ständig Angst“.

Hakim: 1949 in Jakarta geboren, in einer chinesischen Familie („Mittelschicht: mein Vater war Apotheker für chinesische Medizin“), die seit der Generation seiner Großeltern nach Indonesien ausgewandert war. Mit 20 war er nationaler Tischtennisspieler und reiste für die WM 1969 nach München. Er blieb in Deutschland – zuerst, um ein paar Monate die Sprache zu lernen. Der Aufenthalt wurde verlängert, er zog von Bayern nach Bremen, wohnte auch in Nürnberg und fünf Monate in Australien („Es hat mir dort aber nicht gefallen“), bevor er sich für Berlin entschied. „Eigentlich bin ich immer wegen dem Rassismus umgezogen“, sagt er, denn in den 1970er Jahren hätte man als Ausländer noch nicht einmal eine Wohnung anmieten können, „auch nicht mit viel Geld“. In Deutschland arbeitete er eine Zeit lang als Erzieher („langweilig für mich“), dann machte er vor 18 Jahren eine Ausbildung als Fahrradverkäufer. Seinen ersten Kontakt mit der Rad-Spannerei hatte er als Praktikant ein halbes Jahr nach der Eröffnung („Damals noch in der Admiralstraße, ich hatte vor, nur sechs Monate zu bleiben“). Bis heute ist er dort angestellt, lebt in der Nähe mit seiner Freundin, Kinder will er nicht („schon zu viele Menschen auf der Welt“).

Jan: 1971 in Göttingen geboren, in einer „bürgerlichen Familie“ mit zwei Geschwistern. Seine Eltern waren Mitbegründer der Öko-Bewegung in Deutschland („Das Auto wurde schon Mitte der 1980er abgeschafft“). 1994 ging er in die Hauptstadt, um Kunst auf Lehramt zu studieren. Nebenbei jobbte er in der Rad-Spannerei. Der Studentenjob wurde zur Vollzeitstelle: 15 Jahre ist er dabei, seit 2003 Mitbesitzer. Jan ist unverheiratet und hat keine Kinder.

Alltag: Der Laden wird um 11 Uhr geöffnet, wer aufschließt, kommt meistens eine halbe Stunde früher, um die Fahrräder rauszustellen. In der Werkstatt nimmt einer die Aufträge, kaputte Räder und Wünsche an, andere schrauben ununterbrochen. Hakim möchte keine „Schrotträder“ reparieren: „Es lohnt sich einfach nicht.“Aber im Kiez, direkt am Kotti, muss man das den Kunden oft erklären. Manche Tage können da schon anstrengend sein, die „Freaky Fridays“. Wenn ein Rad original zusammengebaut werden soll, dauert das einen ganzen Tag. Einer der Angestellten geht dafür in die ehemalige Werkstatt in der Admiralstraße nebenan. Jan berät Kunden, verkauft Räder und Zubehör, beantwortet E-Mails. „Da kommen auch seltsame Anfragen: ‚Ich hab ein Klapprad aus DDR-Beständen und würde gerne einen Tausend-Watt-Elektromotor einbauen, können Sie das machen?‘ – Also ein Klapprad mit Raketenantrieb!“

Wie viele Fahrräder haben Sie selbst? Jan hat drei, die er benutzt, ein Mountainbike, ein Rennrad („Ich bin oldschool, mein Rad ist 25 Jahre alt“) und ein Reiserad. Seine Sammlung hat er aufgegeben – zu wenig Platz, „aber im Keller stehen noch ein paar, ein Zirkusrad und ein Damenrad“. Hakim besitzt zwei: „Ein Mountainbike für den Winter, ein Rennrad für den Sommer, beide selber zusammengebaut.“ Keiner hat oder will ein Auto. „Wenn ich das meinen Verwandten in Indonesien erzähle – sie stehen total auf BMW und so – will es keiner glauben“, sagt Hakim.

Wie schaut die Zukunft aus? Hakim und Jan haben sich auf Fahrräder aus Stahl spezialisiert und stellen ihre Rahmen selbst her. Irgendwann wollen sie eigene Fahrräder entwerfen, auch Anhänger, die Prototypen entwickeln sie in ihrer Werkstatt. Den Elektrorad-Trend sieht Jan misstrauisch: „Wir sind ziemlich kritisch, was die Technik angeht, die Stabilität überzeugt noch nicht.“ Auch was die Umweltverträglichkeit angeht, machen sie sich so ihre Gedanken.

Wie finden Sie Merkel?

„Schwierige Frage“, findet Hakim, der sie dann auch nicht beantwortet. Jan bezeichnet sich als „Anarchist“, er stellt das ganze politische System infrage – deshalb seien „Personen nicht wichtig“.

Wann sind Sie glücklich? Jans Glück ist eng mit dem Fahrradgeschäft verbunden: „Wenn ich das Gefühl habe, sinnvolle Arbeit geleistet zu haben.“ Hakim zögert keine Sekunde: „Wenn ich Rad fahre.“ Er hat ja angeblich auch „das schönste in ganz Kreuzberg“.

Nächstes Mal treffen wir Jessica Prescott und Andrew Ketteridge in Berlin. Sie möchten auch einmal besucht werden? Schreiben Sie eine Mail an hausbesuch@taz.de