Die Krise kommt an

DIE FOLGEN Ein Jahr nach der Lehman-Brothers-Pleite spüren viele Berliner deren Auswirkungen. Nicht bei allen sind sie jedoch negativ. Fünf Beispiele

Dieter R. sieht sich als optimistischen Menschen. Jahrelang war der heutige Rentner als Reiseunternehmer selbständig, er hat gelernt, dass es normalerweise irgendwann wieder aufwärtsgeht. Trotz der Selbständigkeit wollte er nicht nur an sich denken, sondern sparen, um seinen Enkelinnen ein Schuljahr im Ausland zu ermöglichen. Falls noch etwas übrig blieb, wollte er sich ein besseres Auskommen im Ruhestand ermöglichen. Doch daraus wird erst einmal nichts.

R. ist einer von rund 40.000 Menschen in Deutschland, die durch die Pleite der US-Investmentbank Lehman Brothers Geld verloren haben. 10.000 Euro waren es bei ihm, angelegt in die falschen Zertifikate. „In der Kundenzeitschrift der Citibank stand etwas über eine gute Anlagemöglichkeit, und das Geld wurde bei einer anderen Anlage gerade fällig“, sagt R. In der Zeitschrift habe es geheißen, dass höchstens geringe Verluste möglich seien, bei der Beratung sei er in Richtung der Zertifikate gedrängt worden. Er unterschrieb. Wie viele kannte er nicht einmal den Namen der Zertifikate, in die er investiert hatte. Bis kurz nach dem 15. September 2008.

Einige Tage nach der Pleite der Investmentbank erhielt R. einen Anruf von der Citibank. Mit Leichenbestatterstimme, so R., habe ihm der Bankberater mitgeteilt, dass sein Depot „vorläufig auf null“ gesetzt worden sei. Im schlimmsten Fall wäre ein Totalverlust zu verzeichnen.

Ein Jahr danach klingt seine Stimme wieder fest, wenn er über den Verlust spricht. „Ich war natürlich schockiert, 10.000 Euro sind ja für einen Rentner kein Pappenstiel“, sagt er und gleichzeitig: „Inzwischen habe ich Abstand gewonnen.“ Er sei vorsichtig geworden, was Bankgeschäfte angeht, sollte er noch einmal Geld anlegen, würde er sehr genau prüfen, welche Bank und welche Anlageform er wählt. „Als Opfer der Krise sehe ich mich schon“, sagt R. und will sofort relativieren. Es gebe schließlich Menschen, die es viel härter getroffen habe, etwa mit einem Jobverlust.

Immerhin, sagt er, habe er gelernt, dass man gemeinsam stark sei. Es geht um die Gemeinschaft der Lehman-Geschädigten, ein Netzwerk, das nicht nur Proteste organisiert, sondern auch Informationsveranstaltungen macht und bei Politikern vorspricht. „Dass die Aktionen nach einem Jahr immer noch nicht weniger werden, lässt hoffen, dass wir es schaffen, die Politiker dafür zu sensibilisieren“, sagt er.

Darauf verlassen will er sich aber nicht – und denkt daher seit geraumer Zeit über eine Klage nach. Bis März nächsten Jahres hat er noch Zeit, dann läuft für ihn die Frist ab, in der er vor Gericht gehen kann. Für die Citibank wäre dieser Prozess nur einer von vielen. SVENJA BERGT

■ Demo der Lehman-Geschädigten: heute ab 14.45 Uhr, Treffpunkt: Nikolai-Kirche, Spandau

Es war ein ganz normaler Arbeitstag, als die Nachricht kam. Astrid Diebitsch sitzt im kleinen Konferenzraum im neunten Stock des Nokia-Siemens-Networks-Werks in Tegel und erinnert sich an den Tag, als Lehman Brothers abstürzte. Die Vorsitzende des Betriebsrats weiß noch, dass nach dem Fall der Investmentbank viele Mitarbeiter Angst bekamen und das Wort „Scharzer Freitag“ in den Mund nahmen. „Tatsächlich ist es ja nicht so schlimm gekommen wie zunächst befürchtet“, sagt die 49-Jährige.

Dazu habe beigetragen, dass die Krise sozial abgefedert wurde. Bei Nokia Siemens bedeutet das: Kurzarbeit plus X. Wer kurzarbeitet, bekommt eigentlich an den freien Tagen nur den ALG-I-Satz von der Arbeitsagentur ausbezahlt. „Wir haben jedoch vereinbart, dass die Firma den Beschäftigten etwas zuzahlt, sodass sie auf 80 Prozent ihres Lohns kommen“, erzählt Diebitsch.

Seit Mitte Mai gilt für etwa 400 der 1.200 MitarbeiterInnen am Standort Kurzarbeit. Großkunden gerade vom US-Markt haben ihre Bestellungen bei der Firma für Kommunikationstechnik storniert oder aufs nächste Jahr verschoben. Diebitsch ist froh, dass das soziale Netz funktioniert: „Viele Betriebe hätten doch sofort die Mitarbeiter auf die Straße gesetzt, wenn sie gekonnt hätten.“

Vor der Krise war so viel Arbeit da, dass sogar am Wochenende gearbeitet werden musste. Immer mehr Leiharbeiter kamen, weil die Stammbelegschaft allein nicht fertig geworden wäre. Damit ist Schluss. Fast alle Leiharbeiter mussten gehen. „Wir leben im Moment in einer Wellenbewegung, mal geht es hoch, mal runter – aber auf niedrigem Niveau“, sagt Diebitsch.

Die Betriebsrätin würde die Krise gern nutzen: Die Leute sollen sich weiterbilden. Doch die Anträge für die Mitarbeiter liegen seit fünf Wochen bei der Arbeitsagentur.

Mit Sorge zählt Diebitsch die Tage bis Ende September. Nicht nur, weil dann vielleicht die FDP an die Regierung käme, die aus der Krise nichts gelernt habe, wie sie sagt. Am 30. September endet außerdem die Verpflichtung des Unternehmens, betriebsbedingte Kündigungen auszuschließen.

BASTIAN BRINKMANN

Jan Jonás sitzt in der Zweigbibliothek der Wirtschaftswissenschaften der Humboldt-Uni in Mitte. Der Tscheche macht seinen Doktor in Volkswirtschaftslehre. „Eigentlich sollte ich in einem Jahr fertig sein. Aber das Projekt zieht sich wohl noch ein bisschen hin.“ Die akademischen Weihen später als geplant zu erhalten ist eine bewusste Entscheidung: Jonás hofft auf einen besseren Arbeitsmarkt. Seine Kommilitonen in der Tschechischen Republik, die bereits mit ihrem Diplom in der Tasche auf Jobsuche sind, spüren die Folgen der Krise direkt. Der Bereich Personalmanagement etwa war vor zwei Jahren noch Absolventenmagnet: Jetzt wird um wenige Stellen gekämpft, erzählt er.

Thomas Zimmer studiert Betriebswirtschaftslehre mit Spezialisierung auf Wirtschaftsprüfung und Finanzen. Zurückhaltend freut sich der Student: „Dieser Bereich ist nahezu krisensicher.“ Die Krise selbst sei aber Thema unter den Studierenden sowie in Vorlesungen und Seminaren. „Es gibt keine gesonderten Veranstaltungen, der Gegenstand fließt in den Vorlesungsinhalt mit ein.“

Auswirkungen müsste es nach Zimmers Einschätzung im Fachbereich Management geben. Gerade dort sollten die wirtschaftsethischen Fragen jetzt in den Vordergrund rücken. Die Zukunftschancen sieht der BWLer je nach Studienspezialisierung unterschiedlich. „Für Absolventen, die es auf die großen Banken abgesehen haben, sieht es derzeit schwer aus.“ TOBIAS SINGER

„Die Baugruppen sind derzeit nicht in der Krise, manche Mitstreiter sind allenfalls verunsichert. Denn sie überlegen sich, ob sie jetzt so schnell viel Geld ausgeben können, wenn sie zum Beispiel von Arbeitslosigkeit bedroht sind. Andererseits entscheiden sich Leute, die Kapital haben, um so öfter dafür, Grundstücke oder Häuser und Wohnungen zu kaufen und ihr Geld in Immobilien anzulegen. Damit wachsen auch die Baugruppen.

Wir sehen das an dem Interesse für die Experiment-Days im Oktober. Das ist wie ein Austauschforum für solche Projekte. Dabei soll es auch um die nachhaltige Entwicklung in der Stadt gehen. Für Baugruppen ist es außerdem derzeit günstig, Kredite zu bekommen. Es gibt von der KfW-Bank sehr gute Bedingungen zum Beispiel für denkmalgeschützte Sanierungen, aber auch ökologische Baumaßnahmen oder Passivhäuser.

Für Mietprojekte und Genossenschaften aber sind es keine einfachen Zeiten. Jahrzehntelang hat der Senat bei der Finanzierung geholfen, das ist weggefallen. Aber es haben sich neue Netzwerke gegründet, um diese Lücke zu schließen. Das hat indirekt auch mit der Finanzkrise zu tun – schließlich sehen immer Menschen und Institutionen solche Projekte und Wohnungen als sinnvolle Altersvorsorge an.“

PROTOKOLL: GIW

■ Michael Lafond vom Institut für kreative Nachhaltigkeit ist Baugruppen-Experte und Mitorganisator der Experiment-Days

„Es ist deutlich so, dass wir auf der Gewinnerseite stehen. Das hängt damit zusammen, dass ein Nachdenken über die Sinnhaftigkeit der Geldanlagen an sich stattfindet, aber die Risikofrage sich stellt. Bisher war es bei vielen Kunden eine reine Vertrauensfrage, wo sie ihr Geld anlegen. Mit der Finanzkrise schlägt den Banken erst mal ein grundsätzliches Misstrauen entgegen. Für die Kunden ist es gut zu wissen, wie ihre Bank funktioniert und wofür ihr Geld angelegt wird.

Im Mai 2008 eröffneten wir unsere Berliner Filiale. Seitdem haben wir hier einen sehr starken Zuwachs. Im Durchschnitt haben wir 150 Neukunden im Monat, damit hatten wir nicht gerechnet. Inzwischen haben wir eine neue Mitarbeiterin eingestellt, für sogenannte unvorhersehbare Aufgaben. Sie betreut Kunden, die zum ersten Mal zu uns kommen, wenn alle Mitarbeiter schon im Gespräch sind.

Die GLS Bank ist in den vergangenen Jahren im Schnitt um 15 bis 20 Prozent gewachsen. Dieses Jahr sind wir schon deutlich über 20 Prozent. Unser Kundengeschäft – die Summe alle Kundeneinlagen plus alle Kundenkredite – ist in einem Jahr um 28 Prozent gewachsen, in Berlin sogar um 41 Prozent. Das heißt, unsere Bank wächst sehr stark und in Berlin sogar noch eine Nuance stärker. Wir bieten hier auch Veranstaltungen an zu Finanzthemen. Die werden gut angenommen. Doch so viele Veranstaltungen, Werbung und Marketing kann man gar nicht machen, wie die Finanzsituation uns an Zuwachs beschert. Aber es ist auch traurig, dass es solcher Katastrophen bedarf, um ein Bewusstsein zu wecken.“ PROTOKOLL: GIW

■ Werner Landwehr ist Filialleiter der GLS Bank in Berlin