GEFÄHRLICHE RÜCKSICHT
: Die Missgeburt

„Willst du sterben? Dann steig aus!“, brüllt der Mann

„Autofahrer, beim Abbiegen auf Fußgänger und Radfahrer achten!“ – so steht es auf elektronischen Anzeigetafeln im Stadtverkehr. Obwohl mich manche Radler nerven – sie kommen gern auch mal nachts bei Rot von der Seite angeschossen – halte ich mich im Auto an die Aufforderung zur Rücksichtsnahme. Aber das kann gefährlich sein.

Es ist früher Freitagabend, ein warmer Sommertag. Ich fahre die Frankfurter Allee stadtauswärts und will hinter dem S-Bahnhof rechts in die Gürtelstraße nach Friedrichshain abbiegen. Ich muss warten, da viele Fußgänger die Straße queren. Dann eine kleine Lücke – aber da kommt noch eine Frau von hinten.

Da ich nicht drängeln will, bleibe ich auf der Bremse. Nach dem Abbiegen ist plötzlich ein schwarzer Mercedes links eng neben mir; durch das geöffnete Beifahrerfenster keift eine junge Frau mit dunklen Haaren: „Du Missgeburt, warum fährst du nicht?“ Ich rufe zurück: „Die Fußgängerin hatte Vorfahrt. Das müssen Sie doch sehen!“

Der schwarze Wagen bremst mich aus. Heraus springt ein junger Mann – dickes Auto, dicke Muskeln. Er rennt zu mir. „Willst du sterben? Dann steig aus!“, brüllt er mit türkischem Akzent. Mit der rechten Hand langt er durch die Fensteröffnung und schlägt mir aufs Ohr. Ich will nicht sterben und lege den Rückwärtsgang ein. Von hinten hupt einer – mein Retter. Der Aggro-Fahrer schaut sich um, läuft zu seinem Wagen und rast weg. Sein Kennzeichen merke ich mir und winke dankend dem Retter.

In der darauffolgenden Nacht wache ich schweißgebadet auf. Habe ich etwas falsch gemacht, hatte ich nicht recht? Aber, denke ich dann, aggressive Arschlöcher wollen selber Recht und Macht haben; sie wollen nicht belehrt werden, und man geht ihnen besser aus dem Weg. Außerdem hätte ich das Fenster nur einen Spalt öffnen sollen. Beruhigt schlafe ich ein. RICHARD ROTHER