Rennen nach Zahlen

LEICHTATHLETIK Julian Reus verbessert den 29 Jahre alten deutschen Rekord über 100 Meter – und beweist kurz vor der EM, dass der deutsche Männersprint auf einem guten Weg ist

Reus jubelte, er freute sich – aber nur kurz. Bald schon ist Europameisterschaft

AUS ULM SUSANNE ROHLFING

Die Zahlen sind beeindruckend für den deutschen Männersprint. Es sind Zahlen, denen man lange hinterhergerannt ist. Die man deutschen Athleten schon gar nicht mehr zutrauen wollte, war es doch 29 Jahre her, seit zuletzt ein Deutscher so eine Zahl erreicht hat. 10,06 lautete sie, der Deutsche Rekord des Magdeburgers Frank Emmelmann. Bis Samstag. Bis der Wattenscheider Julian Reus im Halbfinale der deutschen Leichtathletik-Meisterschaften 10,05 Sekunden über 100 Meter rannte.

Er jubelte, er freute sich, aber nur kurz. Viel Zeit hatte er nicht. Denn anderthalb Stunden später stand das Finale auf dem Programm. Und das Zahlenfestival ging weiter. Der Berliner Lucas Jakubczyk wollte Reus nicht einfach so den Vortritt lassen. Reus sollte nicht als einsame Ausnahmeerscheinung daherkommen. Jakubczyk hielt dagegen, lieferte dem deutschen Rekordhalter im Ulmer Donaustadion ein packendes Duell und kam zeitgleich mit ihm ins Ziel. Die Uhr stoppte bei 10,01 Sekunden. Nur der Wind verhinderte die nächste Sensation. Er blies mit 2,2 Metern pro Sekunde von hinten, 0,2 Meter pro Sekunde zu stark für einen offiziellen Rekord.

Reus wurde als Gewinner ausgemacht, Jakubczyk freute sich trotzdem: „Ich bin stolz auf mich, ich bin stolz auf Julian. Der deutsche Männersprint hat bewiesen, dass wir wirklich was können.“ Reus bekannte: „Ich bin einfach nur erleichtert, ich wollte deutscher Meister werden. Das war mein größtes Ziel.“ Im Sog der beiden Protagonisten blieben auch die sechs anderen Finalisten unter 10,30 Sekunden. Vor allem aber ist ein 29 Jahre alter Deutscher Rekord gefallen.

Davon allerdings ließ sich weder Reus noch Jakubczyk beeindrucken. Kurz nach dem Rennen waren sie mit ihren Gedanken schon bei den Europameisterschaften vom 12. bis 17. August in Zürich. Die beiden Deutschen liegen jetzt auf Rang fünf und sechs der europäischen Jahresbestenliste. Hinter dem Franzosen Jimmy Vicaut (9,95 Sekunden) und drei Briten. „Man muss sich jetzt sammeln und sich für Zürich wieder mental auf eine neue Situation einstellen“, sagte Reus. „Dort muss man auf der Bahn stehen, dort muss man zünden.“

Entschieden enthusiastischer war Cheick-Idriss Gonschinska, der Cheftrainer des Deutschen Leichtathletik-Verbandes (DLV). Er sprach von einer „außergewöhnlichen Situation“ und betonte: „Ich glaube, dass Julian, aber eben auch Lukasz für viele Veränderungen stehen, die in den letzten Jahren eingeleitet worden sind.“ Und er lobte: „Sie haben sich mit ganz viel Optimismus und Selbstbewusstsein der These gestellt, deutsche Sprinter könnten sich nicht entwickeln, seien nicht konkurrenzfähig.“

Gonschinska meint einen seit einigen Jahren intensivierten biomechanischen Vergleich mit der internationalen Konkurrenz, Trainingslager im Frühjahr im sonnigen Kalifornien, ein Miteinander, ein gegenseitiges Sichantreiben der deutschen Sprinter. Dass Reus all diese Maßnahmen guttun, hat sich in den vergangenen Jahren abgezeichnet. Seit 2011 steigert sich der 26-Jährige fortlaufend und bietet regelmäßig Zeiten unter 10,10 Sekunden. Jakubczyk (29) wechselte erst 2012 vom Weitsprung zum Sprint und sagt: „Die Entwicklung ist sicher nicht zu Ende, aber es wird immer schwieriger, diese Zeiten zu bestätigen oder noch schneller zu laufen.“

Auch da gibt sich Gonschinska enthusiastischer. „Ich bin überzeugt, dass die Jungs noch mehr draufhaben“, sagt er. Eine Zeit unter 10,0 Sekunden? Gonschinska sagt: „Die werden das schon machen.“