Reykjavík und der kleine Rest der Welt

GLEISSEN Kein Geld, aber riesiges Interesse an Kultur: diese Berliner Spezialität können Isländer auch. Sjón las in der Volksbühne

Sjón war sogar mal für den Oscar nominiert: als Songtexter für Björk und „Dancer in the Dark“

VON ANDREAS HARTMANN

Die Frankfurter Buchmesse findet zwar erst im Oktober statt, aber man kann ja nicht früh genug damit anfangen, sich auf den diesjährigen Ehrengast Island vorzubereiten. Der multitalentierte Autor Sjón, der im Roten Salon der Volksbühne seinen neuen Roman „Das Gleißen der Nacht“ (Fischer Verlag) vorstellte, scheint einen geradezu ideal einstimmen zu können auf das, was da noch so kommen mag von der seltsamen Insel, die sich zuletzt einen ordentlichen Ruf als Heimat der Exzentriker erarbeitet hat, die kein Geld, aber ein riesiges Interesse an Kultur und Literatur haben.

Was fällt einem denn so als Erstes ein zu Island? Die Pleite natürlich. Und den bewundernswerten Umgang der Isländer damit. Die Griechen gingen beim gerade noch abgewendeten Staatsbankrott auf die Barrikaden, von den Isländern hört man, dass sie sich zwar nichts mehr leisten können, aber dennoch bester Laune seien. Auch der in einem Vorort Reykjavíks geborene Sjón wirkt alles andere als verbittert und macht bei seiner Buchpräsentation gleich mehrmals ironische Bemerkungen über das Elend in seiner Heimat, das aus irgendwelchen Gründen gar kein so rechtes Elend zu sein scheint.

Was ist Island sonst noch außer das Land mit komischen Essgewohnheiten, Elfenhügeln, atemberaubender Natur und heißen Quellen? Natürlich die Heimat Björks. Und mit dieser hat Sjón eine ganz besondere Verbindung. Er, der Poet, der bereits mit 15 Jahren erste Lyrikbändchen veröffentlicht hat, die er heute, so gibt er zu, nicht mehr unbedingt für genial hält, war nämlich selbst einmal Musiker. Auch davon erzählt er an diesem Abend. Wie er sich als Jugendlicher für David Bowie begeistern konnte und wie später der Punk bis hoch nach Island kam und im jungen Sjón einen Anhänger fand. Als Johnny Triumph, wie er sich eine Zeit lang nannte, begann er eine Zusammenarbeit mit Björk. Zuerst als Gastmusiker bei deren damaliger Band Sugacubes und später als deren Songtexter. Höhepunkt der Zusammenarbeit war eine Oscarnominierung für die Lieder aus Lars van Triers Film „Dancer in the Dark“, in dem Björk die Hauptrolle übernommen hatte.

Sjón ist ein geradezu prototypischer Islandkünstler, ein echter Typ aus dem Kuriositätenkabinett. Bei uns würde so einer wahrscheinlich als Popliterat laufen, dabei hat der Schrifsteller mit dieser Spezies ganz offensichtlich nur die Affinität zur Popkultur gemeinsam. Aber Sjón ist erklärter Surrealist, und Surrealismus bringt man mit Stuckrad-Barre und Co nun wirklich nicht in Verbindung.

Einerseits ist Sjón verwachsen mit der Heimat – er wohnt dort mit seiner Mutter und seiner Großmutter in einem Haus, wie er berichtet –, und andererseits ist er in der Welt daheim, in London, in Frankfurt, in Berlin, überall hat er bereits eine Weile lang residiert. Trotz Punk und einer damit verbundenen Sehnsucht nach der Moderne spielt sein neuer Roman „Das Gleißen der Nacht“ in einem längst vergangenen Island und handelt von einem Gelehrten und dessen Abenteuern im Jahr 1636. „Sagenhaftes Island“ wird der Schwerpunkt auf der diesjährigen Frankfurter Buchmesse heißen. Sjóns Roman beweist, dass dieser Titel klug gewählt wurde.

Widersprüche haben Sjón schon immer interessiert, wohl auch deswegen ist er ein so begeisterter Anhänger des Surrealismus. Und er nimmt die Dinge eben mit Humor. Vor seiner Lesung werden Ausschnitte aus dem Film „Reykjavik. Whale. Watching. Massacre“ gezeigt, für den er das Drehbuch verfasst hat. Man bekommt einen Splatterfilm in der Whalewatcherszene Islands zu sehen. Harter Stoff. Viel Blut. Pulp. Quentin Tarantino. Und danach die Lesung und etwas ganz anderes: das Mittelalter.