meine stärkste waffe von JOACHIM FRISCH
:

„Die stärkste Waffe eines Menschen ist seine Stimme“, so las ich es in den vergangenen Wochen als Bild-Werbung auf unzähligen Litfaßsäulen und Plakatwänden. Prima, dann bin ich ja permanent bewaffnet, schoss es mir in den Kopf, während ich geduldig mit meinem Sechserpack Gutenachtbier an der Kasse der Tanke wartete. Schon spürte ich, wie sich mein Selbstvertrauen hob, ein zufriedenes, stimmloses Grinsen breitete sich über meinem Gesicht aus.

Die stärkste Waffe will eingesetzt werden, flüsterte meine innere Waffe … – äh, Stimme, als just zwei Prolls mit ausrasierten und tätowierten Nacken mich unsanft zur Seite schoben. „Meine Herren, ich muss Sie bitten, sich in die Schlange hinter mir einzureihen, wie sich das für uns zivilisierte Menschen gehört“, sagte ich mit fester Stimme. Mit Nachdruck fügte ich hinzu: „Der Fairness halber weise ich sie darauf hin, dass ich bewaffnet bin.“ Die kräftigen Herren schauten zuerst mich, dann sich gegenseitig unverwandt an, nahmen ihre Schnapsflaschen vom Tresen und trotteten träge zwei Schritte zurück, um mir den gebührenden Vortritt zu lassen. Geht doch, man muss nur von seiner stärksten Waffe Gebrauch machen. Danke für den Tipp, Werbeagentur Jung von Matt, danke, Bild.

Auf dem Heimweg spürte ich plötzlich einen unangenehmen Druck im Kreuz. Als ich mich umdrehte, blickte ich in die feixenden Gesichter der Prolls von der Tanke und in den Lauf einer kleinkalibrigen Handfeuerwaffe. „Mein Herr, wir bitten um Ihre Geldbörse. Wie Sie sehen, sind wir bewaffnet.“ Ich hielt es nicht für angebracht, meine Waffe zu erheben, und zückte stumm die Brieftasche. Tolle stärkste Waffe, danke, Bild, danke, von Matt.

Knapp eine Minute nachdem sich die Halunken feige verdrückt hatten, fand ich meine Stimme wieder und schleuderte ihnen ein martialisches „Arschlöcher“ hinterher, dass ihnen sicher noch lange in den Ohren klang. Fortan fiel mein Blick immer wieder auf die Plakate, und ich bemerkte, dass stets die Farben Schwarz, Rot und Gold im Bilde waren. Ein Licht ging mir auf. Die Stimme ist eine Waffe, aber ohne Munition. Die Munition ist die Flagge. Schnurstracks besorgte ich mir ein Winkelement in den deutschen Nationalfarben und befestigte es, so wie man das während der Fußball-WM gesehen hat, an meinem deutschen Kleinwagen. Nun war meine Stimme Volkes Stimme, und Volkes Stimme ist unbesiegbar. So ist das gemeint, logo.

Entspannt cruiste ich durch Stadt und Land. Aus anderen mit Winkelementen bewaffneten Fahrzeugen grüßten freundlich pausbäckige Menschen mit gesunder Gesichtsröte und Kurzhaar- oder Hochsteckfrisuren. Ich spürte den warmen Hauch patriotischer Solidarität, und wir wussten: Nichts mehr kann uns aufhalten, wenn wir gemeinsam unsere Stimmen erheben. Und das Beste: Auch die Staatsmacht ist auf unserer Seite, keine Knöllchen, freundliches Vorbeiwinken bei Verkehrskontrollen. Volkes Stimme und Volkes Gesetzeshüter sind sich eins.

Eines Morgens wollte ich wieder in meinen Wagen steigen, da fand ich auf dem Parkplatz statt des geliebten Autos die Kunststoffflagge in einer Ölpfütze. Auf die Flagge war mit dickem Filzer gekritzelt: „Deutschland halt’s Maul“. Ich war entwaffnet.