Begehrter Arbeitsort

Geschäfte in China blühen vor allem in sogenannten Sonderwirtschaftszonen

In den kommenden Jahren entstehen in Macau noch 53 Hotels mit 60.000 Betten

VON CHRISTIAN LEETZ

Man stelle sich folgende Szene in Deutschland vor: Ein Bauer aus dem Saarland will nach Berlin und sich dort neue Arbeit suchen. Die Ernte war schlecht. Das Geld reicht kaum für das Nötigste. Er nimmt also allen Mut zusammen und bricht auf. Nach Rheinland-Pfalz darf er problemlos einreisen. In Hessen lässt ihn der Grenzbeamte im Zug nur gegen ein Schmiergeld weiterfahren. In Thüringen wird er verhaftet, und der Traum vom neuen Leben endet mit einem Verhör.

Was sich für uns verrückt anhört, passiert in China andauernd. Nur will in unserer Geschichte der Bauer aus Schangdong in die Provinz Guangdong, wo gleich drei Sonderwirtschaftszonen ein für chinesische Verhältnisse luxuriöses Leben versprechen. Insgesamt sechs solcher Zonen finden sich auf Chinas Landkarte: der Distrikt Pudong mit der Boomtown Schanghai, Xiamen in der Provinz Fujian, Hainan sowie Schantou, Schenzhen und Zhuhai in der Provinz Guangdong. Ebenfalls als Sonderwirtschaftszonen gelten die Sonderverwaltungszonen Hongkong und Macau. Und wem jetzt vor lauter Sonderzonen schwindlig wird, dem sei das Thema am Beispiel von Macau einmal genauer erläutert.

Erstens: Man reist als einfacher Chinese nicht eben mal so nach Macau. Da wäre es einfacher trotz der Ein-Kind-Regel seine zweite Tochter auf der Dorfschule anzumelden. Für Sonderzonen bedarf es Sondergenehmigungen. Und die Chance, eine zu erhaschen, ist klein. Wer Glück hat, erhält höchstens als Arbeiter auf einer der Großbaustellen für ein neues Casino eines der begehrten Papiere.

In Sonderwirtschaftszonen gilt das politische Prinzip „Ein Land – zwei Systeme“, ausgerufen von Deng Xiaoping, der das Land nach Maos Tod von 1976 bis 1997 an der Spitze der Kommunistischen Partei regierte. Mit Blick in die Zukunft gab er die Parole aus, innerhalb der Volksrepublik China den Sozialismus aufrechtzuerhalten, Macau allerdings nach kapitalistischen Gesichtspunkten gewähren zu lassen.

Die Idee des inzwischen verstorbenen Politikers war für einen Kommunisten so schizophren wie bis heute erfolgreich: ein eigenes Steuersystem mit allerlei Vergünstigungen; das Recht für die Lokalregierungen, selbst Gesetze zu verabschieden; eine auf ausländische Investoren wohlwollend ausgerichtete Wirtschaftspolitik. Dazu noch fehlende Umweltschutzauflagen für das produzierende Gewerbe, kaum Arbeitszeitbeschränkungen, keine Gewerkschaften, kein Mindestlohnabkommen. Zu gut Deutsch: Xiaoping hat kapitalistische Idealbedingungen geschaffen.

Doch zurück zu Macau. Die Stadt am Westufer des Perlflusses ist das Las Vegas von Asien. Um die Wette glitzern 23 Casinos in der Sonderverwaltungszone mit ihren 430.000 Einwohnern, 70 Kilometer von Hongkong gelegen. Etwa 4 Milliarden Dollar erwirtschafteten die Spielbetriebe im vergangenen Jahr. Dieses Jahr, so schätzt die US-Investmentbank Morgan Stanley, dürfte der Umsatz noch mal um 1 Milliarde Dollar zugelegt haben. Ein eigener Flughafen mit mehreren asiatischen Billigfliegern und ein moderner Fährterminal sorgen für einen nie abreißenden Besucherstrom von rund 20 Millionen Gästen pro Jahr – Tendenz stark steigend. In den kommenden vier Jahren entstehen in Macau noch einmal 53 Hotels mit 60.000 Betten.

Seit die kommunistische Regierung vor vier Jahren das Glücksspielmonopol in der einstigen portugiesischen Exklave aufhob, investieren ausländische Betreiber Milliarden – allen voran die Amerikaner. Die Las Vegas Sands Corp. stampfte vor zwei Jahren das größte Casino der Welt aus dem Boden – 21.000 Quadratmeter, 740 Tische, 1.254 Automaten, drei Stockwerke, 24 Stunden täglich geöffnet. Der US-Casino-Magnat Steve Wynn investierte 1,1 Milliarden Dollar in sein 20-stöckiges Spiel- und Luxushotel Wynn Macau, nachdem er gehört hatte, dass die Kollegen nach einem Jahr schon in den schwarzen Zahlen wirtschafteten. Und dann gibt es noch den einstigen Glücksspiel-Monopolisten Stanley Ho, über den sich hartnäckig das Gerücht hält, er sei einst mit nur einem Hongkong-Dollar in der Tasche in die Stadt gekommen. Zwar stimmt diese Geschichte über den heute 83-Jährigen mit seinen 16 Casinos hinten und vorne nicht, doch sie passt wunderschön zum allseits beliebten „Vom Tellerwäscher zum Millionär“-Märchen.

Das Märchen träumen heute in Chinas Sonderwirtschaftszonen Millionen von Menschen jeden Tag – beispielsweise am Grenzübergang von Macau zur Provinz Guangdong. In einem Ein-und-Ausreise-Stadion befördern Rolltreppen einen nie enden wollenden Strom von Menschen an Dutzende von Schaltern, in denen sich Volkspolizisten 17 Stunden täglich die Finger wund stempeln. 300.000 Pendler wollen rein in die Glücksspielhölle oder raus aus der Grenzstadt Guangzhou. Wer es bis in diese Sonderwirtschaftszone gleich neben Macau geschafft hat, darf tatsächlich zumindest auf einen Monatslohn von rund 400 Dollar hoffen.

Aus Guangzhou kommen die Croupiers, die im Dreischichtbetrieb in den Casinos Millionen für die Betreiber verdienen. Aus der Provinz kommen die Arbeitskräfte für die Großbaustellen, Hotel- und Restaurantangestellten. In nur 30 Jahren ist die Einwohnerzahl der Grenzstadt von wenigen tausend auf 1,3 Millionen gestiegen – darunter sind viele Bauern, die es irgendwie bis hierher geschafft haben.