„Wir brauchen wieder mehr Verordnungen“

AUS BRÜSSELDANIELA WEINGÄRTNER

Günter Verheugen scheint seine gute Laune wiedergefunden zu haben. Er trifft sich dieser Tage gern mit Politikern und Journalisten aus den EU-Mitgliedstaaten und erläutert, wie er die bürokratischen Formulare und Statistiken aus Brüssel und den Nationalstaaten so reduzieren will, dass die Unternehmen jährlich 25 Prozent ihrer Kosten einsparen können. „Es gibt Mitgliedsländer, die bereits zeigen, dass es geht. Man kann die den Unternehmen auferlegten Bürokratiekosten genauso messen wie deren Verminderung“, sagt der Industriekommissar im Gespräch mit der taz. Vieles, was Verheugen bei der Erforschung der Frage entdeckt, wie Kosten für die Wirtschaft entstehen, scheint ihn selbst zu verblüffen. Und diese Aha-Erlebnisse teilt der gelernte Soziologe und Historiker dann gern mit der Öffentlichkeit – auch wenn er manches davon wenig später wieder revidieren muss.

So bezifferte er noch vor kurzem das Einsparpotenzial, das sich aus dem Abbau überflüssiger bürokratischer Auflagen ergeben soll, mit 75 Milliarden Euro jährlich. Inzwischen jedoch spricht er bereits von 150 Milliarden. Die Frage, wie sich die Summe in sechs Wochen verdoppeln konnte, bringt den Vizepräsidenten der EU-Kommission nicht aus der Ruhe: „Beim Nachrechnen hat sich herausgestellt, dass die Belastung durch Papierkram größer ist als zunächst gedacht. Wir haben zunächst mit anderen Rechenmodellen gearbeitet als heute. Wir haben aber die Methode veröffentlicht, mit der wir jetzt arbeiten. Es scheint sie niemand zu bestreiten.“

Mit dem derzeitigen Trend, alle Vorschläge aus Brüssel als überflüssige Einmischung abzutun, will Verheugen seine Kampagne keinesfalls in Zusammenhang bringen. Im Gegenteil. „Alle Erfahrungen der letzten zwanzig Jahre sprechen dafür, dass die Regeln, die wir für den Binnenmarkt brauchen, in Europa einheitlich sein sollten. Statt Rahmenrichtlinien brauchen wir wieder mehr Verordnungen, die direkt in der ganzen EU Rechtskraft erlangen. Noch vor Ende des Jahres werde ich Vorschläge vorlegen, die zum Abbau von Hindernissen im Güterbinnenmarkt führen sollen. Einer dieser Vorschläge wird sein, den Binnenmarkt künftig bevorzugt durch Verordnungen zu regeln.“

Gefühlte Überregulierung

Das wäre eine Trendwende. Da die Mitgliedstaaten sich von Brüssel immer weniger hineinregieren lassen wollen, schlägt die Kommission immer seltener Verordnungen vor. Stattdessen beschränkt sie sich darauf, einen Rechtsrahmen vorzugeben, oder veröffentlicht unverbindliche Grünbücher oder Mitteilungen. Die derzeitige Skepsis gegenüber der EU bezeichnet Verheugen als „gefühlte Überregulierung“. Nicht die Bürger seien von den Gesetzen betroffen, sondern die Unternehmen. „Das neue Denken besteht darin, dass man jedes Mal die Grundsatzfrage stellt, ob man überhaupt ein Gesetz braucht und ob es ein europäisches Gesetz sein muss. Es geht darum, die Belastungen durch Gesetzgebung für europäische Unternehmen so gering wie möglich zu halten.“ Ein Bemühen, dem die neue Chemikaliengesetzgebung REACH drastisch zu widersprechen scheint. Denn deren Ziel ist, in aufwändigen Verfahren tausende von Altchemikalien zu testen und gegebenenfalls zu ersetzen. Doch das Beispiel will Verheugen nicht gelten lassen. „Ein Großteil der Mitgliedstaaten und die Mehrheit im Europäischen Parlament haben sich ganz klar für Umwelt und Gesundheit entschieden. Es ist nicht angemessen, eine solche Entscheidung deshalb zu kritisieren, weil nun auf der anderen Seite ein zusätzlicher Aufwand für die Unternehmen und die neue Chemieagentur entsteht. Man kann nicht alles gleichzeitig haben. Gesellschaftspolitische Ziele lassen sich ohne zusätzlichen bürokratischen Aufwand nicht durch-setzen.“

Das sehen viele Kommissionsbeamte auch so. Und genau deshalb bestreiten sie hinter vorgehaltener Hand, dass die Einsparpotenziale durch bessere Rechtsetzung realistisch berechnet sind. Komplizierte technische Details verlangten eben nach komplizierten Regelungen, sagen die Fachleute. Dieser Einwand macht den Industriekommissar nun doch sehr zornig: „Es sind Beamte der Kommission gewesen, die durchgerechnet haben, dass wir 25 Prozent einsparen können. Jede Dienststelle konnte sich dazu äußern. Nicht eine einzige hat gesagt, das sei nicht erreichbar.“

Da liegt die Vermutung nahe, dass nicht alle Mitarbeiter der Kommission Barroso am selben Strang ziehen. Eine Vermutung, die Günter Verheugen durch öffentliche Äußerungen in den vergangenen Wochen mehrfach bestärkt hat. So sagte er zum Beispiel: „Die Kommissare müssen höllisch aufpassen, dass wichtige Fragen in ihren wöchentlichen Sitzungen entschieden werden, statt dass dies Beamte unter sich ausmachen.“

Doch nun hat ihm sein Chef offensichtlich einen Maulkorb umgehängt. Barroso gab zwar öffentlich eine Ehrenerklärung für seinen Industriekommissar ab – aber im gleichen Atemzug auch eine für die Beamtenschaft. Auf die Frage, ob es nicht ein Problem sei, mit einer Beamtenschaft arbeiten zu müssen, die das neue Denken nicht teilt, antwortet Verheugen zwar zustimmend, doch streicht er die Antwort später aus dem Interview wieder heraus. Barroso scheint ihm sehr klargemacht zu haben, wo die rote Linie verläuft, die er besser nicht noch einmal überschreiten sollte.

Dennoch hat er den Vorwurf, glaubt man der Presse, auf einer Veranstaltung vergangene Woche in Essen wiederholt. Und sich dafür prompt einen weiteren bösen Brief der EU-Beamtengewerkschaft eingehandelt.

Beamte in Rente schicken

Es bleibt ein Rätsel, warum der erfahrene Politiker, der die Eitelkeit und den Dünkel des Apparats seit sieben Jahren kennt, sich ausgerechnet von einem Frontalangriff auf die Beamtenschaft Erfolg versprach. Und warum hat er nicht, wie es Artikel 50 des Beamtengesetzes vorsieht, die obersten Beamten aus seiner Generaldirektion in Rente geschickt? Verheugens Antwort lautet: weil er dazu die Zustimmung seiner Kommissarskollegen gebraucht hätte. Auch bei der Berufung von Beamten hat er wenig Spielraum, kann sich nur am Ende des Ausschreibungsverfahrens von zwei Namen einen aussuchen. Die Frage lässt ihn nicht kalt, seine Emotionen hat er nicht im Griff. Doch ein paar Stunden später, als er mit kühlem Kopf durchliest, was er im Interview geantwortet hat, gibt er auch diese Bemerkungen nicht zur Veröffentlichung frei.

Wie also kann er bessere Gesetze machen mit einem Verwaltungsapparat, den er nicht als Spitzenteam bezeichnen würde? „Das führt zu der Frage, ob die Kommission heute noch als einheitliche Behörde organisiert sein sollte. Das war zu Zeiten von Kommissionspräsident Hallstein Anfang der 60er-Jahre angemessen. Da kamen die Kommissare einmal in der Woche zu Besuch nach Brüssel.“ Für die Zukunft schwebt Verheugen vor, die Kommission wie eine nationale Exekutive zu organisieren, wo jeder Kommissar wie ein Minister über sein eigenes Budget verfügt und sein Team selbst zusammenstellen kann, „mit voller Ressortverantwortlichkeit“. Verheugen: „Öffentlichkeit und Parlament behandeln uns, als hätten wir die längst. In Wahrheit haben wir sie nicht. Und ein Aspekt dabei ist die Frage, ob die höchsten Beamten nicht als politische Beamte zu behandeln sind, die bei Antritt einer neuen Exekutive ausgewechselt werden können.“

Noch ist es nicht so weit. Günter Verheugen scheint in den letzten Wochen schmerzlich erfahren zu haben, dass ein Kommissar, der sich mit dem mächtigen Beamtenapparat anlegt, den Kürzeren zieht. Als seine Kabinettschefin Petra Erler in der Tür steht und leise mahnt, er habe ei-nen Termin mit seiner Generaldirektion, unterbricht er sich mitten im Satz und steht schuldbewusst auf. „Es geht einfach nicht, dass du da zu spät kommst“, erinnert sie ihn. Er nickt und eilt zum Fahrstuhl.

Wie hatte er vor sechs Wochen, als er seine öffentliche Beamtenschelte startete, die Lage beschrieben? „Es gibt einen ständigen Machtkampf zwischen Kommissaren und hohen Beamten. Mancher denkt sich doch: Der Kommissar ist nach fünf Jahren wieder weg, ist also nur ein zeitweiliger Hausbesetzer, ich aber bleibe.“ Das also ist der deutsche Superkommissar und Vizekommissionspräsident: ein Hausbesetzer auf dem Weg zu den Hausbesitzern.