DAS SCHWIERIGE SPRECHEN ÜBER ABHÄNGIGKEIT
: Wie klein das Leben wird

Nüchtern

VON DANIEL SCHREIBER

Seit ich nicht mehr trinke, treten viele Menschen an mich heran, um mit mir über ihren möglicherweise bedenklichen Alkoholkonsum zu sprechen. Ich verstehe dieses Bedürfnis gut. Auch nach Jahrzehnten neurologischer und medizinischer Forschungen ist das Thema Abhängigkeit noch ein überraschend großes Tabu. Es gibt keine Gesprächskultur darüber. Über den Umstand, dass einige von uns nicht trinken können, ohne krank zu werden, reden wir, wenn, dann nur hinter vorgehaltener Hand.

Natürlich versuche ich bei solchen Gesprächen deutlich zu machen, dass es eine sehr reale und keineswegs ungewöhnliche Möglichkeit ist, dauerhaft nichts zu trinken. Und dass es sehr viele Menschen gibt, deren Leben sich, nach ihrer Entscheidung, es nüchtern zu bestreiten, auf eine ganz grundlegende Weise verbessert hat. Aber meistens versuche ich nur, ein guter Zuhörer zu sein. Denn die Frage, die diese Menschen am meisten bewegt – nämlich die, ob es sich bei ihren Trinkgewohnheiten schon um Alkoholismus handelt oder nicht –, kann ich nicht beantworten. Manchmal habe ich eine Vermutung. Aber selbst diese behalte ich für mich, wenn ich kann.

Für eine mögliche Diagnose sind nicht nur sind unsere genetischen und neurobiologischen Prädispositionen viel zu unterschiedlich. Der eine verträgt mehr, der andere weniger. Auch unsere kulturellen Prägungen sind zu verschieden, um anhand bestimmter Mengen oder Gewohnheiten zu erkennen, wer abhängig ist und wer nicht. So unterscheiden Soziologen grob zwischen „nördlichen“ und „südlichen“ Trinkkulturen. In „nördlichen“ Trinkkulturen wie in Großbritannien, Russland oder Skandinavien gilt Alkohol vor allem als ein Rauschmittel. Wenn man trinkt, tendiert man hier dazu, sich auch zu betrinken. Tägliches Trinken aber wird als Anzeichen von Alkoholismus gesehen.

In den „südlichen“ Trinkkulturen, in Italien und Frankreich, wird Alkohol vorwiegend als Lebensmittel angesehen. Es wird meist täglich getrunken und tendenziell gilt der Rausch als Zeichen für Abhängigkeit. In Deutschland, wo Alkohol als „Genussmittel“ gilt, also sowohl Rausch- als auch Lebensmittel ist, sind beide Trinkkulturen vertreten. Während man im Badischen eher wie in der Bretagne trinkt, sieht es Samstagnacht in Berlin nur wenig anders aus als in London oder Petersburg. Übrigens ist keine der beiden Trinkkulturen notwendigerweise gesünder, auch wenn die südliche zugegebenermaßen besser aussieht. Alkoholismus ist sowohl in Italien als auch in Schweden weit verbreitet.

Nichtintegriertes Trinken

Aber vor allem möchte ich bei solchen Gesprächen keine Diagnosen stellen, weil auch unsere Fähigkeit, das Trinken in unser Leben zu integrieren, von Person zu Person variiert. Ich habe immer gerne getrunken, gerne und viel. Aber irgendwann habe ich das Leben, das damit einherging, nicht mehr ausgehalten. Ich kenne viele Menschen, die schon viel früher als ich die Reißleine gezogen und ihre Trinkgewohnheiten verändert haben. Ich kenne aber auch viele, die seit Jahren oder Jahrzehnten so trinken, wie ich es getan habe, und damit einverstanden sind. Auch wenn sie sich in eine Sackgasse manövriert haben, die nur schwer wieder zu verlassen sein wird.

Und vielleicht sollte das das eigentliche Kriterium für eine Abhängigkeitsdiagnose sein: Wie klein sich das eigene Leben anfühlt, im Vergleich zu früher, als man weniger oder weniger häufig trank. Wenn man sich die Frage stellt, ob man dabei sein könnte, in die Abhängigkeit zu rutschen, ist einem dieses Problem meistens recht genau bewusst. Das heißt nicht immer, dass man auch wirklich schon abhängig ist. Aber es heißt in jedem Fall, dass es höchste Zeit ist, grundlegend etwas daran zu verändern, wie man sein Leben führt und wie man trinkt.

■ Daniel Schreiber lebt in Berlin. Er ist Autor der Biografie „Susan Sontag. Geist und Glamour“