: 19.000 bunte Pillen
WAHRNEHMUNG Ein Spiel mit der Verschiebung der Norm: Die Ausstellung „Nicht normaal“ im Kleisthaus entdeckt in der Behinderung einen Eigensinn mit ästhetischem Potenzial – und platziert die Kunst in einem Ministerium
VON KATRIN BETTINA MÜLLER
Was ist normal, wer legt das fest? Zum Beispiel in der Gesundheit? Ist der Konsum von 19.000 Pillen normal? Sie bilden in transparente Gaze eingenäht einen über acht Meter langen Teppich, dem das Künstlerkollektiv Pharmacopoeia den Titel „Von der Wiege bis ins Grab“ mitgegeben hat. Die Menge der Tabletten ist der ermittelte Durchschnitt, den ein heterosexuelles Paar im Laufe seines Lebens zu sich nimmt.
Der bunte Intarsienteppich breitet sich über Tischvitrinen, in denen Familienfotos vom ersten Ultraschallbild über Klassenfeiern und Hochzeitsbilder bis zu den Großeltern liegen und jede Menge intimer Bedarfsartikel, wie Brillen, Implantate und Gebisse. Doch während die Fotografien jenes Bild von Privatheit vermitteln, das man freiwillig vorzeigt, wirken die medizinischen und hygienischen Requisiten wie ein nur ungern zugestandener Blick in den Badschrank.
20 Künstlerinnen und Künstler, teils mit internationaler Reputation, hat die Kuratorin Ine Gevers für die Ausstellung „Nicht normaal“ eingeladen, die im Kleisthaus gezeigt wird, im Foyer und in den Fluren des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales. Der Initiator ist der Beauftragte der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen. Die kurzen Texte, die zu jedem der Künstler an die Wand geheftet sind, sind auch in Blindenschrift zu lesen und in einfacher Sprache verfasst. Das Konzept der Ausstellung ist von dem didaktischen Anliegen her gedacht, aus immer neuen Blickrichtungen zu hinterfragen, was als normal empfunden und was als Norm gesetzt wird. Die Werke aber, die fast alle klug mit diesem Thema umgehen, sind oft schon vor vier oder zehn Jahren entstanden.
Ganz im Stil bürokratischer Infotafeln, die gut in eine Behörde für Soziales passen, hält Andreas Vinther Molgaard seine Arbeit „Hinterhalt“: Beworben wird in scheinbar sachlich informierendem Stil ein Kondom, das nicht etwa Empfängnis verhütet, sondern diese durch einen selektiven Spermafilter nur bei guten und gesunden Genen zulässt. Da wird die Norm sozusagen schon im Zeugungsakt installiert – radikaler als in dieser Utopie, die gar nicht so fern von der Wirklichkeit der pränatalen Diagnostik wirkt, kann man Behinderung nicht aus dem Leben verdrängen.
In der Behinderung einen Eigensinn zu entdecken, der auch ein ästhetisches Potenzial birgt, ist hingegen eine Strategie, von der viele Künstler profitieren: So etwa das polnische Duo Pawel Althamer und Artur Zmijewski und die bosnische Künstlerin Danica Dakic. Ihre Videoinstallation „First Shot“ ist Teil einer Serie, die sie zum Thema Paradies entwickelt hat: Sie konfrontierte verschiedene Gruppen von Jugendlichen mit den idyllischen Motiven, die auf alten Tapeten das Paradies darstellen. Diesmal agieren zwei maskierte Jugendliche, vermutlich mit Downsyndrom, vor der Paradies-Kulisse mit eigenartig verlangsamten Bewegungen. Sie boxen sich, sie küssen sich, posen und markieren, wie Schüsse sie treffen. Ihre Gesten sind einerseits Imitation, andererseits so verfremdet, dass ihre übliche Deutung zerfranst.
Zwischendurch wird die Leinwand dunkel, plötzlich hat man nur noch Geräusche zur Orientierung. Die eigenen Sinne schärfen sich vor diesen Bildern, Sehen, Hören, Zeichen deuten, alles in diesem Film funktioniert anders als gewohnt. Das ist Danica Dakic’ Stärke: einen hinüber zu ziehen in eine fremde Perspektive, mit der man nur tastend vorankommt.
Was als normal gilt, ist oft auch eine Frage der wirtschaftlichen Effektivität. Die Gesellschaft tut sich schwer mit ihrem Älterwerden, das einerseits als Erfolg verbesserter Gesundheit gilt, andererseits ist ständig von den steigenden Kosten der Versorgung älterer Menschen die Rede. Floris Kaayk treibt diesen ambivalenten Umgang mit dem Alter in seinem kurzen Film „Metalosis Maligna“ in ein absurdes Horror-Szenario hinein, in dem sich Implantate im Menschen verselbstständigen. Der Ton ist dabei der einer nüchternen Dokumentation. Der Film läuft im zweiten Stock des Kleisthauses, zwischen geschlossenen Bürotüren des Ministeriums für Soziales, und für einen Moment stellt man sich vor, dass hinter den Türen ebenso verrückte Wissenschaftler und Experten sitzen, wie sie bei Kaayk auftreten.
Es gibt ja so viele Verbindungen zwischen den Inhalten der Ausstellung und dem, was an diesem Ort bearbeitet wird. Aber das wird nicht zum Thema, jedenfalls nicht für den einzelnen Besucher – und das ist seltsam. Man sieht Angestellte an den Werken vorbei in die Mittagspause eilen, ganz normaler Alltag, in dem Kunst schon jene Ausnahme bildet, für die eigentlich keine Zeit ist. Und man wünscht sich, dass die vielen interessanten Beiträge hier nicht einfach wie ein Implantat gezeigt würden, sondern die Kunst auch auf diesen konkreten Ort reagieren könnte und das Haus selbst sich zur Kunst verhielte.
■ Im Kleisthaus, Mauerstraße 53, Mo.–Fr. 10–18 Uhr, Zugang nur mit Personalausweis, bis 26. Mai
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