Der professionelle Landstreicher

Lutz Newiger hat sich seinen Lebenstraum erfüllt und einen Weg aus der Arbeitslosigkeit gefunden. Der studierte Ingenieur führt Großstadtmüde durch Brandenburger Landschaften. Nur ist der Naturbursche mit seiner Geschäftsidee nicht allein

VON THOMAS JOERDENS

Der Wind braust in Sturmstärke um die Häuser, die schweren grauen Wolken hängen tief und das Thermometer schafft es nur wenige Striche über null. Wer bei einem solchen Januarwetter ins Brandenburgische hinaus will, fragt sich höchstwahrscheinlich, ob dies wirklich der richtige Tag dafür ist. „Ach was, draußen gibt’s immer was zu sehen. Und vielleicht verzieht sich der Regen ja wieder“, tröstet Lutz Newiger den Ausflügler, den er am Bahnhof Zoo mit einem schneeweißen Kleinbus abholt. Auf den Seitentüren steht in schwarzen Buchstaben „Landstreicher – Natur- und Kulturführungen“.

Der motorisierte Landstreicher fährt ins Rhinluch, eine Niedermoorlandschaft nordwestlich von Berlin. „Ich liebe Brandenburg mit den Wiesen, Wäldern, Hügeln und Seen. Aber es gibt noch viel mehr zu entdecken.“ Und Lutz Newiger, 1959 in Nauen geboren, kennt viele der urwüchsigen Wildnisecken, zu denen er seit September Halbtagstouren organisiert für Touristen, Naturfreunde, Großstadtmüde.

Der kleine schlanke Mann mit runder Brille, eingemummelt in erdfarbene Funktionskleidung und mit einer warmen Kunstfellmütze auf der Halbglatze, parkt hinter dem Zieldorf Linum und stapft voran. Über einen steinigen Matschweg zwischen Kanal und Fischteichen. Auf einem Aussichtsturm baut er ein Fernrohr auf. Man sieht Graureiher, die auf dem grauen Wasser mit dem bloßen Auge nicht auszumachen sind. Silberreiher gleiten vorbei und verschwinden hinter Bäumen. „Das ist freie Natur. So sehn Se das in keinem Zoo“, freut sich Newiger, der hier auch schon Seeadler sichtete. Doch die scheuen Tiere mit einer Spannweite von bis zu zweieinhalb Meter lassen sich nicht blicken. Es beginnt zu regnen.

Die Idee mit dem Landstreicher sei ihn ihm seit sechs, sieben Jahren gereift. „Als ich 2004 bei Bombardier in Hennigsdorf arbeitslos geworden war“, erzählt der Endvierziger, „machte ich damit Ernst.“ Den studierten Ingenieur für Konstruktionstechnik mit diversen Zusatzqualifikationen scheint in Berlin-Brandenburg niemand zu suchen. Jedenfalls fand Newiger keinen angemessenen Anschlussjob und wollte die heimische Scholle nicht schon wieder verlassen.

Nach der Wende hatte er einige Jahre in Baden-Württemberg gearbeitet. „Das war eine schöne Zeit, aber irgendwann wollte ich zurück.“ Inzwischen hat sich der Junggeselle in Börnicke nordwestlich von Berlin sein Traumhäuschen auf eine Waldlichtung gebaut. Dort will er alt werden.

Nach Möglichkeit als professioneller Landstreicher. Das Ein-Mann-Unternehmen war vergangenes Jahr schnell auf die Beine gestellt. Er leaste ein passendes Auto, baute eine Internetseite und entwickelte innerhalb von vier Wochen einen Plan mit etwa 20 Touren zu unterschiedlichen Tier-, Pflanzen- und Landschaftsthemen in Brandenburg. „Jede Woche bin ich mindestens einen Tag unterwegs, um neue Wege abseits der üblichen Wanderrouten zu erkunden“, sagt Newiger.

Schon als Dreijähriger sammelte er die ersten Natureindrücke in der Mark. „Zuerst nahm mich mein Opa auf seinem Fahrrad mit. Später fuhr ich auf eigene Faust los und lernte in meiner Umgebung jeden kleinen Weg und Zipfel kennen.“ Nachdem er das Rhinluch, das Havelland, die Ruppiner und die Behnitzer Heide aus dem Effeff kannte, erkundete er die Naturparks, die Biosphärenreservate, den Nationalpark Unteres Odertal im Osten Brandenburgs. Seinen Erfahrungsschatz betrachtet Lutz Newiger als wertvolles Landstreicher-Kapital. Allerdings hat der Jungunternehmer mit seiner Idee des sanften Wandertourismus das Rad nicht neu erfunden. Die Landesanstalt für Großschutzgebiete, die Naturwacht Brandenburg sowie andere Naturschutzorganisationen und Reiseunternehmer veranstalten ebenfalls ganzjährig Ausflüge durch die Mark zu einem ähnlichen Themenspektrum wie Lutz Newiger.

Um sich von der Konkurrenz abzuheben, bietet der Landstreicher einen Shuttle-Service, bereitet für jeden Ausflug einen Imbiss vor und setzt auf familiäre Atmosphäre. „Ich bin ja nur mit maximal sieben Menschen unterwegs. So kann ich mich um jeden einzelnen kümmern und alle Fragen beantworten. Mit einer kleinen Gruppe steigen auch die Chancen, Tiere besser zu beobachten.“ Überdies sei man flexibler.

„Es ist schwierig, sich einen Namen zu machen und sich zu etablieren“, hat Lutz Newiger erfahren. Diese Hürde erscheint noch höher, wenn der Werbeetat keine Mittel für ein aufwändiges Marketing hergibt. Der Landstreicher hofft vor allem durch den Internet-Auftritt, Werbezettel sowie Mundpropaganda seinen Bekanntheitsgrad zu steigern. Bisher ist die Resonanz nicht überwältigend. Im Monat werden zwischen fünf und zehn Ausflüge nachgefragt. Das sind zu wenig Landpartien, um den Freiberufler zu finanzieren. Der ehrgeizige Unternehmer gibt sich bis Sommer Zeit, um seinen Laden richtig zum Laufen zu bringen. Wenn es klappt, wird er mit den Erlösen aus den Führungen vermutlich keine Reichtümer anhäufen. „Darauf lege ich keinen Wert“, sagt der Naturschützer, der beim Naturschutzbund und bei Greenpeace mitmacht. „Aber wenn ich davon leben kann, ist das ein Traumjob, der Spaß und Sinn macht.“

Die verregnete Tour durch eine stille Winterlandschaft endet mit dem obligatorischen Tee und den selbst geschmierten Stullen auf einer stählernen Rhinbrücke. Der Landstreicher würde niemals von schlechtem Wetter sprechen, nur von unpassender Kleidung. Trotzdem hofft er auf schönere Tage – auch für sein Geschäft.

Informationen zu Touren und Preisen: Tel. (03 32 30) 5 01 60, (01 71) 3 12 84 39, Internet: www.newiger.eu