Dann halt Schiffshebewerk

Schüler in Brandenburg dürfen nicht auf Klassenfahrt ins Leichenkabinett des Plastinators Gunther von Hagens – das gefährde ihre „seelische Unversehrtheit“, fürchtet der Minister. Was tut das nicht?

VON MARTIN REICHERT

„Die Naturforschung setzt also Kenntniss der Thatsachen, logisches Denken und Material voraus“ (Rudolf Virchow, 1821–1902, Begründer der Pathologie)

Die gleichen Schüler, die man nun gemäß der Anweisungen des brandenburgischen Bildungsministers Holger Rupprecht (SPD) nicht mehr in Gunther von Hagens’ Plastinarium nach Guben schicken darf, werden unter Umständen kurz nach ihrem Schulabschluss nach Afghanistan geschickt – nicht mit der Schule, sondern mit der Bundeswehr. Ihre „seelische Unversehrtheit“ steht dort nicht zur Debatte, höchstens, wenn sie mal mit – zugegeben – bereits skelettierten Leichenteilen herumspielen.

Es hat sich zwar weitestgehend herumgesprochen, dass das Leben meistens tödlich endet, in Brandenburg taucht nun aber von offizieller Seite die komplizierte Frage auf: Wie sag ich’s meinem Kind? Jedenfalls nicht über eine Begegnung mit den plastinierten Leichen Gunther von Hagens’, Typ: irrer deutscher (Pseudo-)Professor mit Hut. Die dürfen Schulkinder höchstens im Kino anschauen – etwa im neuen James Bond, in dem eine plastinierte Hagens-Pokerrunde auftritt.

Eins zu null vorerst für die Kräfte der Gegenaufklärung, in diesem Fall sei besonders die evangelische Kirche hervorgehoben, die sich auch in ihrem Kerngeschäft, dem Beerdigungswesen, bedroht fühlt: „Ich sehe darin eine Verrohung der Sitten, bei der nicht nur Körper, sondern auch Seelen in Scheiben geschnitten werden“, schwurbelte Bischof Wolfgang Huber, Vorsitzender des Rats der Evangelischen Kirche in Deutschland, in Richtung Guben.

Vor Ort im gottlosen östlichen Rand Deutschlands kämpft wiederum das „Aktionsbündnis Menschenwürde“, gegründet auf Initiative des örtlichen Pfarrers Michael Domke, gegen das Plastinarium. Auch weil von Hagens lieber von „biologischem Material“ als von Leichnamen spreche. Ähnliche Äußerungen sind auch von Rudolf Virchow überliefert (Typ: irre wegweisender, tatsächlicher Professor mit Bart), der als Begründer der modernen Pathologie in die Geschichte eingegangen ist. Von ihm auch der Satz: „Soll die Schule irgend gedeihen, so muß sie ganz und ohne Rückhalt dem Klerus entzogen werden und an die Stelle pfäffischer Überlieferung ein freisinniger Unterricht treten, dessen Grundlage die positive Naturanschauung bildet.“

Die Zähne ausgebissen hat sich Rudolf Virchow nur an „Ritter Kahlbutz“, verstorben im Jahre 1702, dessen mumifizierter Leichnam heute die Touristenattraktion des brandenburgischen Örtchens Kampehl ist – ausgestellt in den Räumen der dortigen Kirche darf er von sämtlichen Schulklassen des Landes besichtigt werden. Rudolf Virchow hatte keine letztgültige Antwort auf die Frage, warum der Leichnam des preußischen Ritters nicht auf natürliche Art verweste, sondern verlederte – es gibt bis heute verschiedene wissenschaftliche Theorien. Aber schöner ist natürlich die Legende, die besagt, dass Kahlbutz’ Leichnam aufgrund seines sündigen Lebens – er soll ein notorischer Vergewaltiger gewesen sein – verflucht sei. Wertvolles Anschauungsmaterial für den Ethikunterricht also. Trotzdem es sich um eine Leiche handelt.

Beruhigend allein, dass sich weder die brandenburgischen Lehrer noch ihre Schüler von Bildungsminister Rupprecht zwingen lassen wollen, weiterhin nur zum Schiffshebewerk Niederfinow zu fahren: GEW, Landesschülerrat und Elternvertreter sind sich diesbezüglich einig (siehe taz vom 23. 11).

Schließlich hat sich unterhalb der christlichen Gebots- und staatlichen Verbotslogik längst eine offene, interessierte Einstellung zu Tod und Sterben etabliert, nicht nur im weitgehend entchristianisierten Osten des Landes.

Man lässt sich ja auch nicht mehr vorschreiben, wie eine Beerdigung durchzuführen ist: Statt eines Pfarrers kann man sich einen professionellen Beerdigungsredner mieten und, wenn gewünscht, läuft während der Abseilung des Sarges nicht „Ave Maria“, sondern „Highway to Hell“. Die rigiden staatlichen Bestattungsvorschriften à la Urnenzwang werden genauso ausgehöhlt wie der kirchliche Anspruch auf allein selig machende Überführung in das Jenseits.

Gerade jenen jungen StaatsbürgerInnen, denen mit immer größerer Selbstverständlichkeit angetragen wird, ihr Land doch bitte auch am Hindukusch oder sonst wo zu verteidigen, sei es gegönnt, sich zunächst mit den wirklich existenziellen Fragen auseinanderzusetzten. Mit Verboten vermittelt man jedenfalls keine Werte.