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Ein Meister im Versagen

THEATER AUS ISRAEL Beim Festival F.I.N.D. in der Schaubühne stellt die Regisseurin Yael Ronen ihre Inszenierung von „Morris Schimmel“ vor – ein Stück über die Unfähigkeit, sich der Gegenwart und dem eigenen Leben zu stellen

Jeder, der auftritt, beschreibt sich im Grunde selbst als lächerliche Witzfigur

VON KATRIN BETTINA MÜLLER

Das ist das Stück der ausgefallenen Pointen. Das letzte Wort eines Sterbenden zum Beispiel, es könnte solch eine Pointe setzen, eine Sentenz, die dem Schicksal einen Sinn gibt. Aber das letzte Wort vom alten Gumpertz ist einfach nur „Buchweizengrütze“ gewesen. Morris Schimmel, sein Sohn, und Tollebraine, Gumpertz’ Frau, können es gar nicht fassen, „Buchweizengrütze“, was fängt man nun damit an. Lautes Lamentieren. Könnte Papa noch mal reden. Könnten wir noch mal seine Stimme hören. Das Wunder geschieht. Und wieder sagt er „Buchweizengrütze“. Wie konnte ich Idiot mir bloß so ein Wunder wünschen, setzt Morris Schimmel nun die laute Selbstanklage fort.

Vom Habima National Theater und vom Haifa Municipal Theater kommen die israelischen Schauspieler, die „Morris Schimmel“ von Hanoch Levin beim Festival Internationaler Dramatik (F.I.N.D.) in der Schaubühne vorstellen. Die Regisseurin Yael Ronen ist hier bekannt, nicht nur weil sie mehrmals schon bei F.I.N.D. eigene Stücke vorgestellt hat, die das Verhältnis von Israel und Palästina mit scharfem Witz aufgriffen, sondern auch mit Schauspielern der Schaubühne und des Habima Theater „Die dritte Generation“ entwickelt hat, über den Blick auf den Holocaust von heute aus. Damit verglichen wirkt „Morris Schimmel“ zuerst verblüffend harmlos, wie ein Schwank, ein Theaterchen, das seine eigene Niedlichkeit auch noch etwas schuldbewusst vor sich herträgt. Denn tatsächlich steht im Prolog ein kleines plüschiges Bühnchen mit Samtvorhang im großen Saal.

Viele Besucher dieses Gastspiels brauchen die deutschen und englischen Übertitel nicht, sie verstehen Hebräisch und amüsieren sich schon, wenn ein Akkordeonspieler die Bühne betritt oder ein kleiner alter Schauspieler mit viel zu großer Gehhilfe herangetrippelt kommt. Am Abend zuvor, bei einem Gastspiel aus Finnland, waren viele Russen im Publikum. So unterschiedliche Communitys anzuziehen, ist einer der Gewinne, die ein Theater wie die Schaubühne mit F.I.N.D. einfährt. Aber auch dass man einen in Deutschland kaum bekannten Dramatiker wie Hanoch Levin kennenlernen kann.

Sein Morris Schimmel leidet mit Hingabe. Daran, dass sein Leben weder für die Tragödie noch für die Komödie genug hergibt. Er lebt noch bei seiner Mutter, lässt sich von ihr mit Schokolade füttern, seufzt über seine Unentschiedenheit wie über ein unentrinnbares Schicksal. Seine Freunde sind ähnlich kraftlos, den Seitenscheitel von links nach rechts zu verlegen, um ein neuer Mensch zu werden, reicht eben nicht, wie sein Freund Gordon feststellt. Sie treffen sich bei Beerdigungen, sie treffen sich bei einer Verlobung, sie langweilen sich mit immer den gleichen Geschichten. Wie sie es verpasst haben, das Leben.

Jeder, der auftritt, beschreibt sich im Grunde selbst als lächerliche Witzfigur, und die Inszenierung von Yael Ronen versucht auch gar nicht erst, diesen Klischees von Übermüttern und Versagern etwas entgegenzuhalten. Die nostalgische Musik, die expressive Mimik, die stilisierten Bewegungen – das alles hat auch etwas Rückwärtsgewandtes, als wäre man lieber in der Welt des Stummfilms zu Hause als in der des Internet. Aber solch eine Sehnsucht ist es auch, mit der die Figuren sich selbst im Weg stehen und an einem anderen Leben hindern. Sie ist nicht harmlos. Sie ist Ursache ihrer Unfähigkeit, sich der Gegenwart zu stellen.

Käme dieses Stück nicht aus Israel, man würde es vielleicht bei der Einschätzung als witzigen Schwank über einen altgewordenen Muttersohn belassen. Aber nicht nur seine Lust am jiddischen Witz verändert die Perspektive, sondern auch, was man über Hanoch Levin, der 1999 mit 56 Jahren starb, und seine Karriere als Dramatiker und Regisseur der eigenen Stücke erfahren kann. In den siebziger Jahren schrieb er fürs Kabarett und griff die Selbstgefälligkeit der Israelis nach dem Sechstagekrieg an. Viele seiner Stücke hatten mit dem scheinbar Unvermeidlichen als Rechtfertigung politischen Handels zu tun und mit Abhängigkeiten, die zur Selffulfilling Prophecy werden. Vor diesem Hintergrund erkennt man, dass er auch in „Morris Schimmel“ seine Lebensthemen verfolgt und das persönliche Drama als ein typisches Drama erzählt. Morris Schimmel treibt sich eine Heftzwecke in den Daumen, um sich abzustrafen für seine Tatenlosigkeit. Damit ist sein Tatendrang erschöpft.

Nicht aber der Tatendrang von Yael Ronen. Sie wird das Festival beschließen mit einer Workshop-Präsentation am Sonntag (18 Uhr). Sie hat mit jenem Team aus jungen Israelis, Palästinensern und Deutschen, mit denen sie schon „Die dritte Generation“ entwickelt hatte, weitergeforscht, diesmal über die Auswirkungen der unterschiedlichen religiösen Hintergründe. Als Science-Fiction ist das Stück angelegt, in einer fundamentalistisch kontrollierten Welt in Jerusalem im Jahr 2071. Das wird nicht gemütlich. Ein Morris Schimmel hat da wohl wenig Überlebenschancen.

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