: Sex als Heilsbringer und Mäusespeck
LIBERTINAGE Folgte auf die Befreiung der Sexualität eine nachträgliche Verklemmtheit? Ulrike Heiders kritische Geschichte der Sexrevolte von 1968 thematisiert die Dialektik jeder Aufklärung
VON MICHA BRUMLIK
Man kann sich das heute, da in den Feuilletons vorurteilsfrei und kulturwissenschaftlich gewitzt über Sinn und Vorzüge sadomasochistischer Rituale diskutiert wird, kaum noch vorstellen: dass vor vierzig Jahren Eltern, die ihre pubertierenden Sprösslinge unter ihrem Dach Petting ausüben ließen, mit einer Gefängnisstrafe wegen Kuppelei bedroht waren. Derzeit, da selbst die CDU mit einem Wagen an der Christopher-Street-Day-Parade teilnimmt, lässt sich die Muffigkeit und Repressivität der Jahre vor 1968 nicht einmal mehr erahnen. Diese Gedächtnislücke zu schließen ist das Anliegen von Ulrike Heiders neuem Buch „Vögeln ist schön. Die Sexrevolte von 1968 und was von ihr bleibt.“ Der kindlich anmutende Titel zitiert einen Schriftzug an einem Schulhaus in der hessischen Provinz, der sich 1968 zu einem lokalen Sittenskandal ausweitete.
Ulrike Heider, die als Expertin der 68er-Bewegung vielfach publiziert hat, weiß und bekennt, worüber sie schreibt: Als Tochter einer ebenso linksbürgerlich aufgeklärten wie gleichwohl sexualfeindlichen Frankfurter Familie entfaltet sie ihr Thema immer auch an den eigenen Erfahrungen, denen sie sich im Milieu der Frankfurter Spontis bewusst ausgesetzt hat. Freilich kann sie nachweisen, dass es keineswegs nur die verrufenen 68er waren , die wähnten, dem Ruf nach sexueller Befreiung folgen zu sollen, sondern auch – beinahe mehr noch – die illustrierte Massenpresse. So ist es kein Zufall, dass Heider dem durch die Bunte prominent gewordenen Sexualaufklärer Oswalt Kolle eine überraschend faire Behandlung angedeihen lässt, während ihre Erinnerung an Wilhelm Reich, seiner Homophobie und seinen unhaltbaren Vorstellungen idealer Orgasmen eher verhalten ausfällt.
Heiders bestens lesbarer Darstellung gelingt es, die seinerzeit aktuellsten Theoretikerinnen von Michel Foucault über Luce Irigaray und Georges Bataille mit den jeweils neuesten sexualpolitischen Wendungen der sozialen Bewegungen zu verbinden: den Weiberrevolten, den Müttermanifesten sowie den programmatischen Kundgaben von Lesben und Schwulen. So ersetzt „Vögeln ist schön“ als lückenloses Kompendium der einschlägigen Literatur das Lesen oft quälend umständlicher, schlecht geschriebener philosophischer und soziologischer Texte.
Indes: Ihr Buch bezeugt auch die nachwirkende Verklemmtheit sogar bedeutendster Koryphäen auf sexualwissenschaftlichem Gebiet. Was soll man etwa davon halten, dass der Frankfurter Sexologe Volkmar Sigusch noch 2005 Paaren anempfahl, sich „schmutzigen“ Fantasien oder Praktiken zu überlassen, „weil Reinheit, Sauberkeit, Gewissenhaftigkeit und Rationalität die Gifte sind, die jede Erotik vertreiben“? Nicht anders der etwa gleichaltrige Eberhard Schorsch, dem – wie der frühen Alice Schwarzer – faire, auf Reziprozität und Vertrauen gegründete Sexualbeziehungen ein Dorn im Auge waren: Führe doch „Kuschelsex“, so Schorsch 1985, zu einer „Diktatur der Partnerschaftlichkeit und Mutualität“.
Bei alledem wird der vermeintlich linke sexualpolitische Diskurs seinen Schatten nicht los: nämlich den schon früh – etwa vom Psychoanalytiker Reimut Reiche – geäußerten Verdacht, dass die allseitige Befreiung der Sexualität womöglich nur die Oberfläche einer „repressiven Entsublimierung“ sei, also nichts anderes als jener Speck, mit dem die kapitalistische Warenwirtschaft ihre Mäuse, also die Konsumenten ihrer Waren anlockt. Mehr noch: mit der sie das lustvoll Dionysische der Sexualität selbst zur Ware und damit zum Gegenteil von Befreiung transformiert.
Ulrike Heider schließt sich dieser Analyse missvergnügt an, um schließlich für einen neuen, nun wirklich emanzipativen sexuellen Hedonismus zu plädieren, für einen Libertinismus also, der die Fehler der damaligen sexuellen Revolution und ihrer Ausläufer nicht wiederholt. „Das hieße“, so schließt Heiders Buch, „den Sirenengesängen von der ursprünglich guten Sexualität als Heilsbringerin zu widerstehen ebenso wie der Versuchung des sexuellen Inselkommunismus in utopischen Kommunen oder weiblichen Identitätszusammenhängen.“
Jede Aufklärung hat wie jeder Fortschritt ihre eigene Dialektik; nicht auszuschließen ist, dass die befreite Sexualität ihre utopische Kraft aufgebraucht und erschöpft hat – Befreiung, die ihren Namen verdient, also anders zu denken wäre.
■ Ulrike Heider: „Vögeln ist schön. Die Sexrevolte von 1968 und was von ihr bleibt“.
Rotbuch,
Berlin 2014, 320 Seiten, 14,95 Euro
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