Mit Viren angesteckt und bei lebendigem Leibe seziert

JAPAN Zeugenaussagen zwingen Tokio, sich mit alten Kriegsverbrechen zu beschäftigen – widerwillig

TOKIO taz | Seit Ende Februar graben Wissenschaftler auf einem Grundstück in der japanischen Hauptstadt Tokio nach Überresten von mutmaßlichen Opfern systematischer Menschenversuche der Kaiserlichen Armee während des Zweiten Weltkriegs. Ganz in der Nähe stand bis 1945 eine Medizinschule, die als japanischer Ableger der berüchtigten „Einheit 731“ gilt. Diese Truppe der japanischen Armee hatte zwischen 1934 und dem Kriegsende im besetzten Nordosten Chinas eine Forschungsanstalt für die Entwicklung von biologischen und chemischen Waffen betrieben und dort chinesische und russische Gefangene als Versuchskaninchen für grausame medizinische Experimente benutzt.

„Sie haben ein zehn Meter tiefes Loch ausgehoben und dort in den Wochen nach der Kapitulation menschliche Leichen und Körperteile hineingeworfen“, erinnert sich die inzwischen 88-jährige Toyo Ishii, die bei den Arbeiten mithelfen musste. Die frühere Krankenschwester hatte in der Medizinschule gearbeitet und dort Ärzte bei der Untersuchung von in Essig eingelegten Körperteilen beobachtet. Historiker gehen davon aus, dass Leichen von Versuchsopfern aus dem chinesischen Harbin nach Tokio gebracht wurden. In der Anstalt wurden die Gefangenen mit tödlichen Bakterien und Viren angesteckt und häufig bei lebendigem Leib ohne Betäubung seziert. Später verseuchte die Einheit 731 ganze Landstriche mit Krankheitserregern, etwa durch das Aussetzen von Flöhen, die mit der Pest infiziert waren.

Keine japanische Regierung hat diese Kriegsverbrechen je offiziell zugegeben. Im August 2003 hatte ein Gericht in Tokio zwar bestätigt, dass 3.000 Menschen durch Pest und Cholera starben, deren Erreger von japanischen Armeeforschern gezüchtet wurden. Bei der Verhandlung schilderten ehemalige Soldaten der Einheit 731 die Experimente und ihre Folgen. „Wir nannten die Insassen murata – Holzklötze“, erinnerte sich Yoshio Shinozuka. Abends hätten sich die Soldaten vorgerechnet, wie viele Holzklötze sie gefällt hatten.

Doch die Klage von 180 Chinesen wurde zurückgewiesen. Als 1989 in der Nähe der jetzigen Grabungsstelle Knochen gefunden wurde, weigerte sich die Regierung, das Erbmaterial auf chinesischen Ursprung testen zu lassen. Auch diesmal spielen Offizielle die Bedeutung der neuen Untersuchung herunter. „Selbst wenn wir etwas finden, hat es vielleicht nichts mit der Einheit 731 zu tun“, wiegelte ein Beamter aus dem Gesundheitsministerium ab. MARTIN FRITZ