Mit Messerstichen gegen die Zwangsräumung

Wegen versuchten Mordes an einem Gerichtsvollzieher muss sich ein gebürtiger Spanier vor dem Landgericht verantworten. Der Angeklagte zögerte jahrelang Mietzahlungen hinaus und sah bei Wohnungsräumung rot „wie ein Stier“. Laut Berufsvertretung nimmt Aggressivität gegen Beamte zu

Moabit, eine Wohnung im Seitenflügel. Als der Gerichtsvollzieher Andreas D. dem Mieter Vincente G. am 25. Juli 2006 die Zwangsräumung seiner Wohnung verkündet, sticht der 67-jährige Spanier mit einem Messer zweimal in den Oberkörper des Beamten. Der dreht sich weg. Mit zwei weiteren Messerstichen erwischt ihn der Rentner am linken Handgelenk und am Oberschenkel. Nur dank einer Notoperation kann D. gerettet werden. Seit gestern muss sich G. wegen versuchten Mordes vor dem Landgericht verantworten.

Vincente G. ist ein kleiner, untersetzter Mann mit einer starken, altmodischen Brille. Er ist in Valencia geboren und wohnte mehr als 30 Jahre in der gleichen Wohnung in Berlin. Seine Miete zahlte er per Dauerauftrag, „immer pünktlich“, bescheinigt ihm seine Vermieterin. Nur mit den Heizkosten gab es seit einigen Jahren Probleme. Nach Rücksprache mit einem Mieterverein zögerte G. seit 2000 die Nachzahlung heraus. Die Folge: Seine Vermieterin klagte, ein Gerichtsvollzieher trieb das Geld ein.

So lief das bis Oktober 2005. Damals wollte D. eine Nachzahlung von 192 Euro eintreiben. Auch diesmal zahlte G. nicht; der Mieterverein habe ihm bestätigt, dass die Forderung viel zu hoch sei. D. kam ein zweites Mal, diesmal in Begleitung der Polizei, und ließ den Schuldner eine eidesstattliche Erklärung abgeben. Im Januar 2006 erhob der Anwalt der Vermieterin Räumungsklage mit der Begründung: „Das Verhältnis zwischen Mieter und Vermieter ist zerrüttet, die Fortsetzung des Mietverhältnisses nicht zumutbar.“ Im März 2006 wurde über die Klage verhandelt. G. erschien nicht – er sagt, er habe keine Post erhalten.

Die Post mit der Ankündigung des Räumungstermins erreichte ihn aber. Am Tattag standen sechs Menschen vor der Wohnungstür: Das Vermieter-Ehepaar, zwei Zeugen, ein Schlosser und der Gerichtsvollzieher. Sie erblickten Vincente G., der mit einer Tüte und einer Zeitung die Treppe heraufkam. Es sah aus, so sagten die Zeugen, als ob der Angeklagte den Gerichtsvollzieher gegen die Brust boxen würde. Beim zweiten Stich erst sahen sie das Messer unter der Zeitung hervorblitzen. Wie es in seine Hand kam, kann Vincente G. nicht erklären. Wortreich argumentiert er im Gerichtssaal: „Einen alten Menschen wie Müll auf die Straße werfen, wo bleibt da die Gerechtigkeit?“ Er hätte in diesem Moment nur rot gesehen „wie ein Stier.“ Er habe D. aber nicht töten wollen: „Ich bin Fleischer. Wenn ich ihn hätte töten wollen, hätte ich gewusst, wohin ich stechen muss.“

Seine Exvermieterin sagt: „Die Sache wäre niemals so eskaliert, wenn Herr G. mal mit mir gesprochen hätte.“ Warum sie nicht das Gespräch mit ihrem langjährigen Mieter suchte, bleibt offen.

Ein Einzelfall, „der halt immer wieder vorkommt“, sagt Peter Schneider vom Deutschen Gerichtsvollzieher Bund. In Berlin gab es seit mehreren Jahren keine solchen Attacken; bundesweit aber schon. Die Aggressivität gegenüber den Beamten habe zugenommen, bestätigt Schneider. Nicht umsonst gehört das Deeskalationstraining zur Ausbildung. „Bei Zwangsräumungen ist man immer vorsichtiger, weil es für den Schuldner ans Eingemachte geht. Allerdings kam dieser Angriff so überraschend, dass der Kollege keine Chance hatte.“

Am Freitag wird der Prozess mit dem psychiatrischen Gutachten zur Schuldfähigkeit von Vincente G. fortgesetzt. Uta Falck