Madrids Zugbomber vor Gericht

In Spanien beginnt der Prozess gegen die mutmaßlichen Bombenleger vom 11. März 2004. Beim größten Nachkriegsanschlag in Europa starben damals 191 Menschen

Kein Ermittlungsverfahren war jemals so großem öffentlichem Druck ausgesetzt

MADRID taz ■ In Madrid beginnt ein Mammutverfahren, wie es Spanien noch nicht gesehen hat. 20 radikale Islamisten und 9 Spanier stehen ab heute vor dem höchsten Strafgericht des Landes, der Audiencia Nacional. Sie werden beschuldigt, für die Anschlägen auf die Madrider Pendlerzüge am 11. März 2004 verantwortlich zu sein. Bei diesem größten Terroranschlag in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg kamen 191 Menschen ums Leben, knapp 2.000 wurden verletzt. Die Staatsanwaltschaft fordert für die 29 Beschuldigten insgesamt 270.855 Jahre Haft. Den Vorsitz der Verhandlung hat Richter Javier Gómez Bermúdez, der bereits 2005 über eine spanische Al-Qaida-Zelle urteilte, die in die Vorbereitungen der Attentate vom 11. September 2001 in den USA beteiligt war.

Die meisten der angeklagten Islamisten lebten als Immigranten in Spanien. Sie sollen die Anschläge vorbereitet haben. Die mitangeklagten Spanier werden beschuldigt, den Sprengstoff für die Tat aus einer Mine in Nordspanien entwendet zu haben. Nur zwei der Angeklagten sollen laut Ermittlungsakten selbst Bomben in einem der Züge deponiert haben. Die restlichen sieben Mitglieder des ausführenden Kommandos stehen nicht vor Gericht. Sie sprengten sich wenige Wochen nach den Attentaten in einem Madrider Vorort in die Luft, als ihre Wohnung von der Polizei umstellt wurde. Dabei kam ein Polizist ums Leben.

Laut Anklageschrift bildeten die sieben zusammen mit den angeklagten Islamisten ein unabhängige lokale Gruppe salafistischer Ideologie, die von al-Qaida inspiriert war. Die Idee zu den Bomben sollen sie einer Internetseite entnommen haben. Dort veröffentlichte eine Gruppe mit dem Namen „Die Weisen von al-Qaida“ einen Text, in dem ausführlich auf die möglichen Auswirkungen eines Anschlags kurz vor den spanischen Parlamentswahlen eingegangen wurde. Die Bomben in den Zügen explodierten drei Tage vor dem Urnengang – der Sozialist José Luis Rodríguez Zapatero gewann überraschend die Wahlen.

Kein Ermittlungsverfahren war so großem öffentlichem Druck ausgesetzt wie das zu den Bombenanschlägen vom 11. März. Die bei den Wahlen unterlegene konservative Volkspartei (PP) und Teile der Presse setzten alles daran, um doch noch nachzuweisen, dass die baskische ETA an der Tat beteiligt war, wie es damals die konservative Regierung José Maria Aznars behauptet hatte. Die Vorwürfe wiegen schwer. Die Justiz soll gezielt Informationen zurückhalten, die Polizei Beweise manipulieren, um von der ETA abzulenken. Manche Ermittlungsergebnisse nähren alle mögliche Theorien: Egal ob bei den Sprengstofflieferanten, bei dem Kommando, das die Bomben baute und in den Zügen deponierte oder im Umfeld, überall waren Polizeiinformanten mit von der Partie. Auch ihre Rolle wird der Prozess klären müssen.

Das Verfahren, das mindestens fünf Monate dauern wird, ist in jeder Hinsicht ein Mammutverfahren. Die Ermittlungsakten umfassen 93.000 Seiten. Hinzu kommen 200.000 Seiten dokumentarischer Anhänge. Alleine die Anklageschrift ist 1.471 Seiten dick. 618 Zeugen und 107 Sachverständige sind geladen. Die Urteilsschrift wird, so verlautet aus Gerichtskreisen, wohl kaum weniger als 300 Seiten umfassen. Das Verfahren findet in einem eigens dafür hergerichteten Gebäude auf dem alten Messegelände vor den Toren Madrids statt. Das Anwesen wird weiträumig abgeschirmt. Die Kanalisation wird regelmäßig abgesucht, Hubschrauber überwachen das Szenario. Wie viele Beamte im Einsatz sind, wurde zur Geheimsache erklärt.

„Der Prozess wird dennoch so transparent sein wie keiner zuvor“, heißt es aus Gerichtskreisen. Die Verhandlung wird „live und unzensiert“ übertragen. Weltweit haben Fernseh- und Rundfunkanstalten Zugriff auf dieses Signal. Für den Normalverbraucher reicht ein Blick ins Internet. Unter www.datadiar.com kann jeder in Echtzeit mit dabei sein. REINER WANDLER