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: Echte Handlung, echtes Risiko: Thomas Jeier erzählt von der Flucht einer 15-Jährigen in die USA

Eigentlich ist es ja schön, wenn es den Menschen gut geht. Aber manchmal hat man den Eindruck, dass so viel Wohlergehen bei der Produktion von Literatur nicht immer förderlich ist. Womit nicht auf das Klischee zurückgegriffen werden soll, dass der Künstler leiden müsse, damit Großes entsteht. Aber das Phänomen ist schon auffallend: Die Wohlstandsgeneration schreibt Wohlstandsliteratur – wendig formuliert, flott zu lesen, aber viel zu oft um sich selber und die Belanglosigkeit des eigenen Lebens kreisend. Die Beziehungsdramen der Mittdreißiger haben in der Jugendliteratur ihre Entsprechung in den Patchworkfamiliendramen der 15-Jährigen. Auch hier hat sich ein gewisser Überdruss des Lesers an den ewig gleichen Problemen breit gemacht. Man sehnt sich nach echten Dramen mit einer literarisch relevanten Fallhöhe.

Ein möglicher Ausweg aus diesem Dilemma führt in die Vergangenheit, und es ist sicher kein Zufall, dass historische Romane zurzeit so gut laufen. Wer nur die ersten Zeilen des neuen Buches von Thomas Jeier liest, spürt sofort, warum. Da gibt es echte Handlung mit echtem Risiko und echter Angst. Wenn die 17-jährige Emma des Nachts aus dem Fenster klettert, um zu Fuß nach Hamburg zu fliehen, hat sie nicht viel Zeit, um über ihre Furcht nachzudenken. Viel zu beschäftigt ist sie damit, den richtigen Weg zu finden und sich zu verstecken. Diese Emma hat nichts Zauderndes: Ihr Mut ist so groß wie die Not, der sie entkommen will. Und so wagt sie mehr, als man vernünftigerweise mit 17 wagen sollte: Von Hamburg aus reist sie mit dem Auswandererschiff nach New York. Es ist das Jahr 1909, und von Amerika weiß Emma so viel, wie sie auf dem Foto einer Postkarte gesehen hat.

Jeier hat ein packendes Buch über eine Zeit geschrieben, in der erkämpft wurde, was heute als selbstverständlich gilt. Natürlich verliebt sich diese Emma, natürlich leidet auch sie, als sie ihren August in New York aus den Augen verliert. Aber vor allem muss Emma überleben in einer Zeit, in der den unzähligen Arbeitslosen eine staatliche Unterstützung nach Hartz IV wie das Paradies vorgekommen wäre. In den Fabriken von New York werden die Arbeiter wie Sklaven gehalten. Wer aufmuckt, fliegt raus. Und wer rausfliegt, verliert das Dach über dem Kopf. Als Emma nach langer Suche endlich Arbeit in einer Nähfabrik findet, ist das ihre Rettung. Aber die Desillusionierung folgt prompt. Gemeinsam mit anderen Näherinnen lehnt sie sich schließlich gegen die Fabrikbesitzer auf. Diese Arbeiterinnen wollen nur das, was heute im Westen als Standard gilt: eine Mittagspause, Weiterbeschäftigung bei Krankheit, gleichen Lohn für gleiche Arbeit. Jeier erzählt, wie Frauen vor hundert Jahren starben, weil sie solche Forderungen stellten, und wie es den Überlebenden nach diesem Kampf besser ging.

Das ist aufregend, weil es fremd ist und wahr. So fremd und wahr wie die poetische Sklavengeschichte von Dolf Verroen, die gerade mit dem Jugendliteraturpreis geehrt wurde. Der Niederländer Verroen erzählt auf minimalistische Weise von einem zwölfjährigen amerikanischen Mädchen aus reichen Verhältnissen, das zum Geburtstag einen Sklaven geschenkt bekommt. Maria ist begeistert. Und als das neue Spielzeug nicht mehr gut genug funktioniert, wird es eben verkauft und gegen ein neues ersetzt. Verblüffend daran ist, wie konsequent der Autor die Welt durch Marias Augen sieht und mit ihren Möglichkeiten begreift. Im Gegensatz zu Emma ist Maria eine unbedarfte Figur, die ihre Privilegien genießt. Emma und Maria – die Heldin und die Antiheldin, die zusammengehören wie die zwei Seiten einer Medaille. ANGELIKA OHLAND

Thomas Jeier: „Emmas Weg in die Freiheit“. Verlag Carl Ueberreuter, Wien 2006, 256 Seiten, 14,95 EuroDolf Verroen: „Wie schön weiß ich bin“. Aus dem Niederländischen von Rolf Erdorf. Peter Hammer Verlag, Wuppertal 2005, 72 Seiten, 12 Euro